Christiane Hörbiger hat mit ihrer enormen Ausstrahlung schon immer dafür gesorgt, dass selbst leichte Filme ein gewisses Gewicht bekamen. Seit einigen Jahren aber hilft sie mit ihrem großen Namen, schwere Stoffe zu vermarkten. Demenz ("Stiller Abschied"), Toleranz und Integration ("Bis ans Ende der Welt"), die Eintönigkeit im Alter ("Zurück ins Leben"): lauter Belege dafür, dass die ARD-Tochter Degeto auch schon vor ihrer Reformierung nicht bloß kleine Fluchten aus dem Alltag produziert hat.
"Auf der Straße" fügt sich nahtlos in diese Reihe ein: Thorsten Näter erzählt vom unverschuldeten Abrutschen einer älteren Frau in die Obdachlosigkeit. Florian Baxmeyer hat das Drehbuch mit großer Intensität umgesetzt. Dafür sorgt vor allem von Wedigo von Schultzendorff, der das Drama gerade in den Innenaufnahmen wie eine Reportage wirken lässt, weil seine Handkamera stets ganz nah an der Hauptfigur ist und die Ereignisse über ihre Schulter hinwegfilmt, sodass die Geschichte buchstäblich aus ihrer Perspektive erzählt wird.
Schon die Eröffnung führt direkt ins Thema ein: Auf einen Panoramablick, der Hamburg als nächtlich glitzernde Metropole zeigt, folgen Aufnahmen von Obdachlosen. So nah liegen Reichtum und Armut beieinander, suggerieren die Bilder, und das ist exakt die Geschichte des Films: Weil ihr Mann kurz vor seinem Tod einen Kredit aufgenommen hat, um zu kaschieren, dass sein Geschäft längst pleite war, steht Hanna Berger über Nacht vor dem Nichts. Die Eigentumswohnung wird versteigert, die Einrichtung verpfändet. Sozialleistungen lehnt sie ab; einerseits aus Stolz, andererseits, weil sie nicht will, dass sich die Behörden das Geld von ihrer Tochter zurückholen wollen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Vordergründig geht es auch weiterhin um Hannas sozialen Absturz. Ungeschönt zeigt Baxmeyer die Nächte im überfüllten Wohnheim für Obdachlose, wo sich betrunkene Frauen auch schon mal prügeln. Diese unangenehm glaubwürdig wirkenden und von einer sparsamen, aber ungemein stimmigen Musik (Annette Focks) untermalten Szenen allein hätten schon genügt, um "Auf der Straße" sehenswert zu machen, doch die große Stärke von Näters Drehbuch liegt in der beiläufigen Integrierung einer zweiten Ebene: Hannas Tochter Elke (Margarita Broich) hat schon vor vielen Jahren den Kontakt zur Mutter abgebrochen. Auch diese Ebene wird mit einem Bild eingeführt, dass bereits alles sagt: Hanna ruft Elke an, um sie über den Tod des Vaters zu informieren, und hinterlässt eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Elke ist zuhause, sie hört die Botschaft, aber die Kamera zeigt sie nur schemenhaft im Hintergrund. Damit wäre dieser Teil der Handlung eigentlich schon zu Ende, aber der erfahrene Näter, Autor und Regisseur unzähliger Krimis, weiß natürlich, wie man Spannung schürt: Ihr Freund (Dirk Borchardt) redet Elke ins Gewissen, sie macht sich auf die Suche nach Hanna, von deren sozialem Absturz sie keine Ahnung hatte, und holt sie zu sich. Aber das ist noch längst nicht das Ende der Geschichte, denn da ist ja noch die alte Schuld, die einst zum Zwist zwischen Mutter und Tochter geführt hat und selbstredend noch heute zwischen ihnen steht.