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Die weißrussische Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch erhält den Literaturnobelpreis.
Chronistin des Alltags im Osten Europas
Lebensnah und vielstimmig: Die weißrussische Autorin Swetlana Alexijewitsch bekommt den Nobelpreis für Literatur. Ihre «kollektiven Romane», für die sie Hunderte Menschen interviewte, schildern auf berührende Weise den Alltag in ihrer Heimat.
08.10.2015
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Mario Scalla (epd)

Frankfurt a.M. (epd)In ihren Büchern will Swetlana Alexijewitsch dem wirklichen Leben so nahe wie irgend möglich kommen. Lange Jahre habe sie dazu nach der richtigen literarischen Methode gesucht, erzählte sie einmal. Von diesem Ideal ist die 67-jährige weißrussische Schriftstellerin und Journalistin nie abgewichen, hat es sich über Jahrzehnte oft auch mühsamen Schreibens über den Alltag in der Sowjet- und Post-Sowjetzeit bewahrt. Am Donnerstag bekam sie die weltweit höchste literarische Ehrung für ihr Werk zugesprochen, den Literaturnobelpreis.

Swetlana Alexijewitsch wurde am 31. Mai 1948 in einer Kleinstadt in der Westukraine geboren. Sie wuchs in einem durchschnittlich gebildeten Elternhaus auf, Mutter und Vater waren Lehrer in einem kleinen Dorf. Ihr Vater war gebürtiger Weißrusse. Als er glücklich aus dem Zweiten Weltkrieg zurückkehrte, zog die Familie in seine Heimat, in der die Tochter - mit Unterbrechungen - bis heute lebt.

Arbeiten "zu journalistisch"

Swetlana Alexijewitsch schrieb bereits in ihrer Jugend Gedichte und journalistische Reportagen. Als Studentin an der Staatsuniversität in Minsk verfasste sie Kurzgeschichten und Essays und experimentierte mit unterschiedlichen literarischen Genres, ohne noch die für sie richtige Form zu finden. "Zu journalistisch" sollte sie später ihre ersten Arbeiten nennen.

Das änderte sich mit ihrem Buch "Der Krieg hat kein weibliches Gesicht", das sie 1983 abschloss, das aber erst zwei Jahre später erscheinen durfte, nachdem Michail Gorbatschow in der Sowjetunion die Perestroika eingeleitet hatte. Für dieses Buch hatte sie zahlreiche Frauen interviewt, die millionenfach im Krieg kämpften, aber in der offiziellen Geschichte nicht vorkamen, denn dort war nur von den Heldentaten der Männer die Rede.

Als Alexijewitsch mit den Interviews begann, musste sie von ihren "Heldinnen" Sätze hören wie: "Warum kommst Du zu mir, Du könntest dich besser mit meinem Mann treffen, der könnte Dir alles erzählen." Aber die Autorin ließ nicht locker, brachte die Menschen zum Reden, sammelte ihre Stimmen und trug sie zu einem Chor zusammen. Damit hatte sie ihren Stil gefunden. Doch einen Namen für diese literarische Technik zu finden, ist bis heute nicht leicht: "Kollektiver Roman", "Epischer Chor", "Romanoratorium" sind einige Versuche der Benennung.

Probleme mit den Behörden

Als Swetlana Alexijewitsch einmal gefragt wurde, warum sie diese Methode gewählt hat, antwortete sie: "Genauso höre und sehe ich die Welt - als einen Chor einzelner Stimmen und als eine Collage alltäglicher Details. So funktionieren mein Auge und mein Ohr, nur so kann ich gleichzeitig mein intellektuelles und mein emotionales Vermögen in meinen Büchern realisieren." Dieser Methode blieb sie treu.

In "Die letzten Zeugen" (1985) thematisierte sie das Leiden vieler Menschen unter dem stalinistischen Alltag, in "Zinkjungen" (1989) die Opfer des Afghanistankriegs, in "Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft" (1979) die Auswirkungen der Reaktorkatastrophe auf Mensch und Natur. In allen ihren Büchern wird die offizielle Geschichtsschreibung durch die Erfahrungen der Menschen ergänzt und korrigiert.

Da war es kein Wunder, dass Alexijewitsch häufig Probleme mit den Behörden bekam: Mitte der 80er Jahre traten noch die Zensoren der Sowjetunion auf den Plan, um ihre "unpatriotische Haltung" zu kritisieren. Später, unter der Diktatur des weißrussischen Präsidenten Alexander Lukaschenko, wurde sie geheimdienstlich überwacht und zeitweilig an der Ausreise gehindert. Dennoch reiste sie um die Welt, um ihr Tschernobyl-Buch vorzustellen und ruhig und bescheiden auch davon zu erzählen, wie sie selbst in der verseuchten Region um den Reaktor mit den Menschen dort sprach.

Sie wurde international bekannt und mit Preisen geehrt, darunter der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2013. Ihre zunehmende Prominenz sorgte dafür, dass sie weiter arbeiten konnte. Über 3.000 Interviews hat sie im Laufe der Jahre für ihre Bücher geführt, zuletzt für ihr "Secondhand-Zeit. Leben auf den Trümmern des Sozialismus" (dt. 2013). Swetlana Alexijewitsch ist die große Chronistin des alltäglichen Lebens im Osten Europas.