In den letzten Jahren hatte es fast den Anschein, als habe der NDR ein Vorrecht, die Romane von Siegfried Lenz zu verfilmen. Allerdings waren die stets mit Jan Fedder besetzten Adaptionen - "Der Mann im Strom", "Das Feuerschiff", "Die Auflehnung", "Arnes Nachlass" – nicht nur ausnahmslos sehenswert, sie hielten sich auch eng an die Vorlage. Thomas Bergers ZDF-Drama "Die Flut ist pünktlich" (2014) ist hingegen recht freizügig mit der gleichnamigen Kurzgeschichte des vor fast genau einem Jahr verstorbenen Schriftstellers umgegangen, und auch sein neuer Film "Der Verlust" basiert allenfalls noch auf Motiven des gleichnamigen Romans. Der Titel des Buches bezieht sich auf den Sprach- und Identitätsverlust der Hauptfigur. Beides ist im Film abgemildert: Nach einem Schlaganfall ist Uli Martens (Heino Ferch) zwar noch eine Weile in seinem Bewegungen eingeschränkt, kann sich aber bald zumindest flüsternd wieder verständlich machen. Trotzdem ist der Kontrast immer noch frappierend: Der Mann ist ein ganz spezieller Fremdenführer, der die Menschen mit seinen Erzählungen verzaubert.
Wer den Roman kennt, wird auch über den Anfang verblüfft sein. Martens radelt gemeinsam mit seiner Freundin Nora (Ina Weisse) durchs nächtliche Hamburg, als er einen Aussetzer hat: Die Beine bewegen sich mechanisch weiter, aber der Kopf funktioniert nicht mehr. Deshalb bremst er nicht, als ein Auto auf sie zurast. Der Fahrer muss ausweichen und überfährt einen Fußgänger. Mit Lenz hat das zwar nichts zu tun, aber als Einstieg ist der Vorfall natürlich fesselnd. Außerdem kann "Kommissarin Lucas"-Schöpfer Thomas Berger ("Busenfreunde", "Wir sind das Volk") die Geschichte auf diese Weise um ein Krimielement ergänzen, denn fortan ermittelt ein Kriminalkommissar (Peter Jordan) wegen des Verdachts auf fahrlässige Tötung. Auf Martens kann er dabei nicht zählen, denn am Morgen nach dem Ereignis ereilt ihn der Schlaganfall. Dass er, kaum wieder bei Kräften, aus der Klinik flüchtet, macht ihn in den Augen des Polizisten natürlich erst recht verdächtig.
Zur zentralen Figur der Handlung wird allerdings die Freundin, was nicht nur inhaltlich, sondern auch dramaturgisch interessant ist: Nora ist gerade dabei, in Martens’ Wohnung ein paar Sachen für ihn zu packen, als sein Telefon klingelt. Auf diese Weise entdeckt sie, dass ihr Freund, mit dem sie seit einem Jahr zusammen ist, irgendwo an der Küste eine weitere Beziehung hat; und das schon seit zehn Jahren, wie sich später rausstellt, denn anstatt Martens im Krankenhaus zu besuchen, fährt sie aufs Land, um Karin (Fritzi Haberlandt) kennen zu lernen. Der intensive Austausch zwischen den beiden Frauen hat zweierlei zur Folge: Karins Schilderungen offenbaren, dass all die Eigenschaften, die Nora an Martens schätzt, auch ihre Kehrseite haben, denn was Nora als Freiheit und Lebenskunst versteht, betrachtet Karin als haltlos und ziellos; und die eigentliche Hauptfigur ist über eine längere Strecke plötzlich nur noch als Gesprächsgegenstand vorhanden.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Diesen Teil der Geschichte hat Berger dazuerfunden; der Roman konzentriert sich viel stärker auf die Rivalität zwischen Martens und seinem Bruder (Hans-Jochen Wagner), dessen Frau (Meret Becker) einst seine Geliebte war. Mit der Einführung der Zweitfrau rückt Berger eine andere Form der Sprachlosigkeit, das Schweigen, in den Vordergrund. Allerdings ähnelt sein Film auf diese Weise auch vielen anderen dieser Art, in denen Frauen (oft nach einem Schicksalsschlag) entdecken, dass ihre Männer ein Doppelleben geführt haben. Gespielt ist das allerdings vorzüglich. Ina Weisse und Fritzi Haberlandt bilden ohnehin einen in jeder Hinsicht reizvollen Kontrast; beide Schauspielerinnen vermitteln glaubwürdig, dass in ihrem Inneren noch weit mehr abläuft, als sich die Frauen gegenseitig verbal vermitteln. Für Heino Ferch gilt das erst recht: Martens kann sich nicht nur nicht mehr flüssig artikulieren, auch seine Mimik ist eingeschränkt. In der darstellerisch eindrucksvollsten Szene bleiben Ferch daher bei der ersten Begegnung mit Nora nach dem Schlaganfall quasi nur die Augen, um den Gefühlen Ausdruck zu verleihen.
Auch optisch ist "Der Verlust" ein Genuss, weil Berger und sein Kameramann Wedigo von Schultzendorff sowohl für Hamburg wie auch für die Küstenlandschaft vortreffliche Bilder gefunden haben. Die ruhige Erzählweise hebt sich auf wohltuende Weise von den vielen Krimis ab, die das Fernsehen derzeit dominieren; die fließenden Kamerafahrten und der Gegensatz zwischen Stadt und Land verleihen dem Film eine sehenswerte Ästhetik.