Im wirklichen Leben funktioniert sie vermutlich nicht immer, aber im Film ist die Methode ausgesprochen beliebt: Vor seinem Tod möchte ein Mensch dafür sorgen, dass die Familie wieder zueinander findet, und legt daher testamentarisch fest, dass die Angehörigen gemeinsam eine Aufgabe bewältigen müssen; gern verbunden mit der Auflage, dass die Hinterlassenschaften ansonsten an eine gemeinnützige Organisation gehen.
In "Heimat ist kein Ort" sind es die drei Geschwister Kurbjuweit, die sich zusammenraufen müssen: Ihr verstorbener Vater schickt sie auf eine Reise ins einstige Ostpreußen; dort sollen sie seine Asche an den wichtigsten Stätten seiner Kindheit verstreuen. Die Sache hat nur einen Haken: Inge (Marie Gruber), Klaus (Jörg Schüttauf) und Uwe (Sönke Möhring) sind einander bestenfalls gleichgültig; genau genommen können sie sich nicht leiden. Einzig Inge, die Älteste, fühlt sich dem Vater verbunden; die beiden Männer haben ihm dagegen bis heute nicht verziehen, dass er sie als Kinder nach dem Tod der Mutter in ein Heim abgeschoben hat. Entsprechend überschaubar ist ihre Motivation, den letzten Wunsch des Alten zu erfüllen: Es geht ihnen ausschließlich ums Geld. Vierte im Erbschaftsbund ist Inges Tochter Jule (Karolina Lodyga).
Auch wenn der Ansatz des Drehbuches (Lo Malinke, Philipp Müller) nicht sonderlich originell klingen mag, mutig ist er dennoch, denn nicht eine der Hauptfiguren lädt zur Identifikation ein: Inge ist eine herrische Oberschwester, für die Ostpreußen immer deutsch bleiben wird; ihre demonstrativ distanzierte Haltung zu Jule sowie ihre Verachtung gegenüber dem homosexuellen Uwe machen sie nicht sympathischer. Taxifahrer Klaus ertränkt seine Eheprobleme in Alkohol, musste deshalb seinen Führerschein abgeben und erlaubt sich einige böse Scherze mit seiner Schwester. Uwe schließlich, schwul, Vegetarier und abhängig von Psychopillen, wirkt völlig lebensuntauglich. Dass es Regisseur Udo Witte, dessen letzter Film "Eins ist nicht von dir" (auch nach einem Drehbuch von Malinke und Müller) ebenfalls eine Versöhnungsgeschichte war, dennoch gelingt, diese von ihrer Biografie zermürbten Figuren nach und nach zu Menschen werden zu lassen, mit denen man Mitgefühl empfindet, ist eine bemerkenswerte Leistung, zu der die drei ausgezeichneten Hauptdarsteller natürlich ihren Teil beitragen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Noch verblüffender ist allerdings die Entwicklung des Vaters. In seinem Testament hat er beschrieben, welchen Bezug er zu jeweiligen Stationen der Reise hatte. Die von Dieter Mann vorgetragenen Passagen sorgen dafür, dass die Kinder ihren Vater in völlig anderem Licht sehen. Zunächst beschreibt er das unbeschwerte Glück seiner Kindheit, aber dann werden die Ereignisse, von denen er ihnen zu Lebzeiten nie berichtet hat, immer düsterer: wie sich sein Vater durch den Krieg verändert hat und schließlich gefallen ist; wie er die Mutter in den Wirren der Flucht verloren und nie wieder gesehen hat; wie er sich später, als seine Frau starb, darüber im Klaren war, dass er seinen eigenen Kindern nie ein guter Vater sein könnte und dass sie bei Pflegefamilien besser aufgehoben wären. Mit dem Bild des einst entwurzelten Vaters, der im neuen Leben offenbar nie richtig Fuß gefasst hat, wandeln sich nicht nur Inge, Klaus und Uwe, sondern auch der Film; aus der anfänglichen Komödie, in der einige Slapstickszenen für große Heiterkeit sorgen, wird eine zutiefst melancholische Geschichte, die schließlich zu Tränen rührt, als das endlich erwachsen gewordene Trio den Rest der väterlichen Asche am Grab seiner als Kind verstorbenen kleinen Schwester verstreut.
Im Grunde hätte die zögerliche Versöhnung nicht nur der Geschwister, sondern auch von Inge und Jule als Handlung genügt, aber das Drehbuch sorgt durch geschickt eingefügte Nebenschauplätze und weitere Figuren dafür, dass die Gruppendynamik viel Anstoß von außen erhält. Reiseführer der Deutschen ist der attraktive polnische Jurist Krzysztow (Piotr Witkowski), in den sich Jule prompt verguckt, aber offenbar ist der junge Mann schon vergeben. Während sich bei der zünftigen Hochzeit von Krzysztows Schwester auch Inge in einen Einheimischen verliebt, erfährt Klaus per SMS, dass seine Frau die Scheidung will. Nächster Tiefpunkt ist die Erkenntnis der Kurbjuweits, dass die mondäne Villa, die sie zu erben hoffen, bloß ein beliebtes Postkartenmotiv ist; aber dafür ist das, was sie im Verlauf ihrer Reise gewonnen haben, unbezahlbar.