Es ist ebenso erstaunlich wie erschreckend, welch’ bizarre Ereignisse Autoren immer wieder im Zusammenhang mit der deutschen Teilung entdecken. Für ihr Dokudrama "Die Klasse - Berlin ’61" schildern Michael Klette (Buch) und Ben von Grafenstein (Buch und Regie) ein Kapitel der deutsch-deutschen Geschichte, das alles mitbringt, was ein Autor braucht: Liebende werden getrennt, Träume werden zerstört, Existenzen vernichtet. Im Zentrum des Films steht zwar mit dem Tag des Mauerbaus am 13. August 1961 ein historisches Datum, doch geschildert werden die Vorfälle ähnlich wie in Hartmut Schoens Fernsehfilm "Die Mauer – Berlin ’61" (2006) aus der Sicht jener, die davon unmittelbar betroffen sind. Während Schoen von einer Familie erzählt, die über Nacht auseinandergerissen wurde, sind die zentralen Figuren von "Die Klasse" sechs Ostberliner Schülerinnen und Schüler, die eine Oberschule im westlichen Neukölln besuchen, weil die SED ihnen aus politischen Gründen das Abitur verwehrt. Die schriftlichen Prüfungen haben sie schon hinter sich; und dann wird die Grenze dicht gemacht.
Wie in Dokudramen üblich, beginnt der Film als Mischung aus Interviews, zeitgenössischem Bildmaterial und Spielszenen. Anders als in 45minütigen Dokumentationen aber kann Ben von Grafenstein viel weiter ausholen. Die rekonstruierten Szenen sind hier weit mehr als bloß Ergänzung und Illustration, sie rücken immer stärker in den Vordergrund. Umso wichtiger war die Besetzung der Jugendlichen. Die jungen Darstellerinnen und Darsteller passen nicht nur physiognomisch gut zu den Erwachsenen, die sie in jungen Jahren verkörpern, sie machen ihre Sache ausnahmslos vortrefflich. Jella Haase und Isabel Bongard sind aus vielen Filmen bekannt, Vincent Redetzki ist ebenfalls bereits recht erfahren, aber noch unverbraucht. Sophie Horváth hat in dem Zweiteiler "Die Himmelsleiter - Sehnsucht nach Morgen" einen ausgezeichneten Eindruck hinterlassen, und auch Alexander Pensel empfiehlt sich dringend für weitere Aufgaben. Gleiches gilt für Johannes Klaußner.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Natürlich profitiert das Sextett auch davon, dass es nicht nur engagiert worden ist, um den Zeitzeugen ein jugendliches Gesicht zu geben: Das dokumentarische Drama wandelt sich mehr und mehr zum Spielfilm. Neben der markanten Darstellung trägt allerdings vor allem die dramaturgische Konstruktion des Drehbuchs zur emotionalen Spannung bei. "Die Klasse" beginnt mit dem Mauerbau, um dann einige Jahre in die Vergangenheit zu springen. Geschickt kombinieren Klette und von Grafenstein das Heranwachsen ihrer Hauptfiguren mit der Zeitgeschichte: Gerade noch saßen die Jungs und Mädels knutschend im Kudamm-Kino, da werden sie kurz drauf im Foyer von der Zeitungsschlagzeile erwartet, dass Nikita Chruschtschow den Vier-Mächte-Status Berlins infrage stellt. Interessant ist auch der Kontrast zwischen den Jugendlichen und ihren Eltern: Die einen hoffen, dass alles gut gehen wird, die anderen rechnen mit dem Schlimmsten. Aber auch die jungen Leute wissen, dass ihr täglicher Grenzwechsel zwischen den Atommächten ein Tanz auf dem Vulkan ist.
Schon vor der Grenzschließung gibt es immer wieder heikle Szenen, die von Grafenstein, der zuletzt unter anderem ein Dokudrama über Helmut Schmidt gedreht hat ("Lebensfragen"), entsprechend fesselnd inszeniert. Etwa in der Mitte des Films schließt sich der Kreis zum Anfang, die Klasse ist geteilt. Einige sind schon vorher in den Westen gezogen. Rüdiger (Redetzki), der immer stärker ins Zentrum rückt, muss seinen Traum vom Medizinstudium begraben und wird im Straßenbau eingesetzt. Ein Fluchtversuch scheitert, die Gruppe wird bereits von der Polizei erwartet, Rüdiger wird etwas später verhaftet und zu sieben Jahren Zuchthaus verurteilt. Die entsprechenden Verhörszenen sind schon oft filmisch verarbeitet worden, aber immer wieder bedrückend (Uwe Preuss spielt den Stasi-Offizier). Zu Tränen rührt allerdings ein anderer Moment, als Rüdiger vor dem Fluchtversuch an einem früheren Grenzübergang arbeitet und auf der Westberliner Seite zufällig von seinen Klassenkameraden, darunter auch seine Freundin, entdeckt wird. Zwischen den beiden befindet sich bloß ein Stacheldraht; und doch trennen sie Welten.