"Clean Eating" oder "Clean Food", reines Essen, heißt ein Trend aus den USA. Es gehe darum, möglichst unbehandelte Lebensmittel zu sich zu nehmen und auf industriell hergestellte Nahrung zu verzichten, erklärt die Apothekerin und Buchautorin Angela Fetzner. Für viele ist damit verbunden: Zurück zur Natur, zu einer ursprünglichen Ernährung "weit weg von Farben und Geschmack aus dem Reagenzglas", wie es auf der privaten Webseite clean-eating.de heißt.
Auch der Erntedank-Altar in den Kirchen ist ein Symbol für eine solche einfache, ursprüngliche und unverfälschte Nahrung, wie Clemens Dirscherl sagt, Beauftragter für agrarsoziale Fragen der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Mit seinen Früchten sei er gleichzeitig Ausdruck einer Sehnsucht nach einer idealisierten bäuerlichen Kultur.
Der Trend zu einer nachhaltigeren Ernährung werde sich langsam fortsetzen, sagt Dirscherl: "Ich glaube nicht, dass wir das wieder umkehren nach dem Motto 'Hau dir den Bauch voll, iss fettes Fleisch, egal wie es hergestellt worden ist'". Gerade das Erntedankfest werbe für ethischen Konsum. "Es gibt ein moralisches Profil der Ernährung", urteilt der evangelische Agrarexperte: "Welche Auswirkungen hat mein Essen auf die Dritte Welt, auf Arbeitsverhältnisse, auf Tierschutz, Klima, Wasser, Energie oder Landschaft?"
Eine verbotene Frucht löste den Sündenfall aus
Geradezu eine neue Religion rund ums "richtige" Essen beobachtet Gillian McCann, Professorin für Religion und Kultur im kanadischen Ontario. "Clean Eating" und andere Ernährungsstile wie die "Anti-Gluten-Bewegung" oder missionarischer Veganismus hätten eine "moralische Hierarchie des Essens" hervorgebracht. Der Bedeutungsgewinn von Ernährung stehe im Zusammenhang mit einem Niedergang der Religion in der Gesellschaft und der Suche nach ethischen Werten.
McCann zeigt sich jedoch skeptisch, ob Essen diese Lücke ausfüllen kann. Ausgerechnet Verhaltensweisen wie Selbstgerechtigkeit oder die Aufteilung der Welt in Gut und Böse, die früher negativ mit Religion in Verbindung gebracht worden seien, schienen bei Anhängern bestimmter Ernährungsstile wieder aufzublühen, sagte sie der kanadischen Zeitung "National Post". So sage es schon etwas aus, ob jemand erkläre, "ich esse vegetarisch" oder "ich bin Vegetarier." Das Verhältnis zwischen Nahrung und Tugend hat freilich tiefe Wurzeln: Der Bibel zufolge lösten Adam und Eva durch das Essen einer verbotenen Frucht im Paradies den Sündenfall aus.
Die Esskultur wird immer mehr zum Spiegel der Gesellschaft. Das sieht auch der Regensburger Kulturwissenschaftler Gunther Hirschfelder: "Ob jemand Veganer ist oder das Magazin 'Beef!' abonniert hat, das drückt auch aus, in welcher Welt er leben möchte". Allerdings gebe es zugleich einen Widerspruch zwischen dem, was die Leute zu essen vorgeben und was sie tatsächlich einkauften. Hirschfelder: "Wir haben angeblich fast zehn Millionen Vegetarier und der Fleischverbrauch geht zumindest nicht signifikant zurück."
Scheinheiligkeit in den neuen Ernährungs-Trends sieht auch der US-amerikanische Philosoph und Religionswissenschaftler Alan Levinovitz (The Gluten Lie: And Other Myths About What You Eat). Die Leute neigten dazu, moralische und religiöse Begriffe zu verwenden, wenn sie über ihren Ernährungsstil redeten. Doch "weder der Glaube an wundersame Heilkräfte bestimmter Nahrung noch die Dämonisierung von Lebensmitteln bringt nennenswerte Vorteile für die Gesundheit", sagt Levinovitz der US-amerikanischen Zeitschrift "The Atlantic".
"Ernährung ist nicht nur materiell, sondern auch kulturell"
Essen wird also immer komplexer. Kann das christliche Erntedankfest Orientierung für die Ernährung bieten? "Das Erntedankbild ist ein sehr schönes Bild. Es erinnert uns daran, dass Ernährung auf Produkten basiert, die die Natur hervorbringt", sagt Hirschfelder, der ein Buch über die Geschichte der europäischen Esskultur geschrieben hat. Natürliche Produkte "fallen nicht in einer Konserve vom Himmel, sondern wachsen irgendwo und sind insofern auch Ergebnis von Schöpfung in irgendeiner Form, egal ob ich religiös bin oder nicht."
Das Erntedankfest zeige zudem, dass Ernährung in einem größeren Bezug gesehen werden müsse. Hirschfelder: "Ernährung ist nicht nur materiell, sondern auch kulturell. Wir können nicht in einer Gesellschaft leben, in der wir alle Dinge aus ihren Zusammenhängen lösen und nur technisch betrachten. Eine solche Gesellschaft ist unmenschlich."