Wer aufgrund des Titels einen Horrorstreifen erwartet oder zumindest ein düsteres Märchen, irrt gewaltig; selbst wenn ein Dasein in der Welt dieses Films insgesamt wenig erstrebenswert erscheint. Die Regisseurin heißt Frauke Finsterwalder, und nicht nur der Titel lässt erahnen, dass "Finsterworld" ihr erstes Werk ist. Das Debüt hält alles, was man sich von Filmen dieser Art verspricht: ein mutiges Konzept, eine überraschende Dramaturgie und eine ungewöhnliche Geschichte. Genau genommen erzählt die Regisseurin, die das Drehbuch gemeinsam mit ihrem Mann, dem Schweizer Autor Christian Kracht, geschrieben hat, rund ein halbes Dutzend Geschichten, deren Handlungsstränge sich immer wieder mal kreuzen, was für die Betroffenen meist nicht von Vorteil ist.
Die ersten Bilder könnten tatsächlich aus einem Märchenfilm stammen: Ein im Wald lebender Einsiedler findet eine verletzte Krähe, die ihm fortan nicht mehr von der Seite weicht. Protagonist des zweiten Strangs ist Fußpfleger Claude (Michael Maertens), der von einer Polizeistreife beim Telefonieren während des Fahrens erwischt wird. Dank einer großzügigen Spende in Form diverser Hand- und Fußcremes drückt Polizist Tom (Ronald Zehrfeld) ein Auge zu. Später wird er mit den Präsenten seine egozentrische Freundin (Sandra Hüller) überraschen. Deren Name, Franziska Feldenhoven, ähnelt ein wenig dem der Regisseurin, außerdem ist sie ebenfalls Filmemacherin; auch Finsterwalder hat als Dokumentaristin angefangen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Franziska träumt vom "neuen Neorealismus" und ist ziemlich unzufrieden mit ihrem aktuellen Projekt. Als Tom ihr vorschlägt, anstelle eines unglücklichen Arbeitslosen doch lieber glückliche Tiere in Afrika zu filmen, wirft sie ihm vor, er sei ich-bezogen. Derweil geht Claude seiner Arbeit nach und pflegt die Füße der alten Frau Sandberg (Margit Carstensen), die sich über ihre Einsamkeit beklagt. Ihr zynischer Sohn Georg (Bernhard Schütz) hat eine ausgesprochen anspruchsvolle Frau (Corinna Harfouch) und weder Lust noch Zeit, seine Mutter zu besuchen. Aktuell ist das Ehepaar auf dem Weg nach Paris. Bei einer Rast lässt Georg seine Wut an einem vermeintlichen jungen Spanner aus, der Inga angeblich beim Pinkeln beobachtet hat. Dabei hat sich der Schüler bloß verlaufen, nachdem er sich von seiner Klasse abgesetzt hat. Die ist auf Klassenfahrt zu einem Konzentrationslager, und man ahnt früh, dass der engagierte Lehrer (Christoph Bach) auf verlorenem Posten kämpft.
Wie gut das Drehbuch gewesen sein muss, zeigt schon allein die Riege der namhaften Darsteller, die allesamt nicht ahnen konnten, ob Finsterwalder auch als Regisseurin ihr Handwerk versteht. Die Umsetzung ist zwar weitgehend konventionell, aber das ist angesichts der ausgefallenen Dramaturgie auch völlig in Ordnung, schließlich ist "Finsterworld" dank des episodischen Erzählstils völlig unvorhersehbar; und das gilt nicht nur für den Film insgesamt, sondern auch für die einzeln Geschichten, die Finsterwalder und Kracht mit einer Vielzahl von Nebenhandlungen versehen haben. Am Ende nehmen sie ausnahmslos gänzlich unerwartete Wendungen; die einen ins Dramatische, die anderen ins Tragische. Dass es dabei jeweils Unschuldige trifft, während die Antipathieträger davonkommen, ist eine weitere grimmige Ironie dieses ebenso provokanten wie außergewöhnlichen Debütfilms, dessen schönsten Dialogsatz Yello-Sänger Dieter Meier in einer winzig kleinen Gastrolle sagen darf: "Lächeln ist das Kleingeld des Glücks."