Beim "Tatort" gab es das schon öfter, aber für "Polizeiruf 110" ist es eine Premiere: Erstmals ermitteln zwei Teams gemeinsam. Das war längst überfällig, denn die länderübergreifende Zusammenarbeit hat Tradition: Im "Tatort" tauchten früher regelmäßig auch mal die Kollegen auf. Zum dreißigjährigen Jubiläum der Sonntagsreihe (2000) lösten die Kölner Ballauf und Schenk unter dem Titel "Quartett in Leipzig" einen Fall gemeinsam mit den Herren Ehrlicher und Kain, und vor drei Jahren gab es die beiden sehenswerten Filme "Kinderland"/"Ihr Kinderlein kommet" mit dem nunmehr ebenfalls in den Fernsehruhestand gewechselten Leipziger Duo Saalfeld und Keppler. "Wendemanöver" mit den "Polizeiruf"-Teams aus Rostock und Magdeburg ist zudem ein echter Zweiteiler.
Die kreative Verantwortung für das Projekt übertrugen NDR und MDR Eoin Moore, dem Schöpfer des Teams aus Rostock, was schon deshalb eine gute Entscheidung war, weil Moores "Polizeiruf"-Filme ausnahmslos herausragend waren und er sich mit Katrin König und Sascha Bukow (Anneke Kim Sarnau, Charly Hübner) eins der aufregendsten deutschen Ermittler-Duos ausgedacht hat. Da die Magdeburger nach interessantem Start vor zwei Jahren etwas nachgelassen haben, konnte auch hier ein bisschen frischer Wind nicht schaden. Gemeinsam mit Koautorin (und Ehefrau) Anika Wangard erzählt Moore nach einer Vorlage von Thomas Kirchner eine Geschichte, die mit ihrer enormen Komplexität den Rahmen eines Einzelfilms gesprengt hätte.
Die Handlung beginnt exakt auf die gleiche Art wie weiland die erste Kooperation zwischen den Kölner und den Leipzigern: mit dem klingelnden Telefon eines Toten; auf diese Weise kommt der erste Kontakt zwischen den beiden Teams zustande. In der nachgereichten Vorgeschichte stellt sich raus, dass es eine Verbindung zwischen der Ermordung eines Hotelgasts in Rostock und dem in der gleichen Nacht verübten Brandanschlag auf ein Unternehmen in Magdeburg gibt: Bei dem Brand ist seine Geliebte ums Leben gekommen. Während hier wie dort ermittelt wird, ob es auch einen Zusammenhang zwischen den Taten gab, tun sich nach und nach Abgründe auf: Zunächst geht es um illegale Waffenexporte nach Somalia, dann führt die Handlung zurück in die Vergangenheit der frühen Neunzigerjahre. Die ARD strahlt "Wendemanöver" nicht ohne Grund rund um den Tag der deutschen Einheit aus: Kurz nach der Währungsreform haben sich einige Leiter früherer volkseigener Betriebe die Übergangszeit zunutze gemacht und sind Scheingeschäfte mit Ostblockländern eingegangen; mit diesen "Transferrubelgeschäften" ist der Staat um mehrere Milliarden Mark betrogen worden.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Dieser Hintergrund kommt allerdings erst in Teil zwei zum Tragen. Bis dahin ist "Wendemanöver" eine klassische Mördersuche mit vielen Nebenhandlungen. Dazu gehört auch ein besonders mieses Spiel, das mit einem früheren Kollegen des etwas schrägen Magdeburger Kommissars Drexler (Sylvester Groth) getrieben worden ist. Beide waren einst Mitglied der Zentralen Ermittlungsstelle Regierungs- und Vereinigungskriminalität (Zerv), und offenbar ist der Kollege, Ferdinand Frey (Cornelius Obonya), einem Betrug im großen Stil auf die Spur gekommen; am Ende landete er wegen Vergewaltigung einer Frau im Gefängnis, was erst recht perfide war, denn der Mann war schwul, und keiner weiß das besser als Drexler
Frey ist die eine tragische Figur der Geschichte, die junge Jenny Richter die andere: Ihre Mutter ist bei dem Brand gestorben, ihr geliebter Großvater (Jörg Gudzuhn) entpuppt sich als skrupelloser Waffenexporteur, und ihr Vater (Peter Schneider) hat ebenfalls entscheidenden Anteil an der Tragödie. Zoe Moore, die Tochter des Regisseurs, die erstmals mehr als nur einen Gastauftritt in einem Film ihres Vaters hat, beweist nach ihren großen Rollen in "Die kleine Meerjungfrau", "Mein Sohn Helen" und "Der Himmel zwischen den Welten" erneut, dass sie eine der vielversprechendsten jungen Schauspielerinnen ist.
Zentrale Charaktere aber sind natürlich die beiden Teams, wobei Moore die sich ergebenden Möglichkeiten weidlich ausnutzt. Bukow ist nach wie vor suspendiert; Chef im Revier ist nun Pöschel (Andreas Guenther), der sich seinerseits umgehend in die Magdeburgerin Brasch verguckt, zumal sie wie er eine SEK-Vergangenheit hat. König wiederum verliebt sich ebenfalls, allerdings in den völlig Falschen. Für Bukow schließlich geht es rasant bergab: Erst pöbelt er beim Zwangsbesuch bei der Psychologin rum, dann wird in seinem Auto ein Tatverdächtiger erschossen; notgedrungen müssen die Kollegen ihn zur Fahndung ausschreiben.
Optisch ist Moores Umsetzung eher unauffällig; der Film wirkt, als sei die Kombination der vier grundverschiedenen Typen schon Experiment genug. Sehenswert aber ist der Zweiteiler auch dank des ausgefeilten dramaturgischen Konzepts auf jeden Fall. Die ungewöhnliche inhaltliche und emotionale Vielschichtigkeit sowie die ausgezeichneten darstellerischen Leistungen machen "Wendemanöver" zu einem Höhepunkt der der gesamtdeutschen "Polizeiruf"-Geschichte.