Die Alternative wäre noch schlimmer: Das Ehepaar käme für mindestens sechs Jahre ins Zuchthaus, und beide Kinder würden zur Adoption freigegeben. Dieser unfassbare Zynismus des DDR-Regimes war schon Gegenstand des Zweiteilers "Die Frau vom Checkpoint Charlie" (ARD), doch die Unterschiede sind offenkundig: "Jenseits der Mauer" will kein Spektakel sein und ist auch kein "Event"-Film wie "Wir sind das Volk". Die Hauptfiguren sind keine überlebensgroßen Helden, sie schreiben nicht Geschichte, sie erleben, erleiden und erdulden sie; und gerade das macht sie so authentisch.
Friedemann Fromm, der zuletzt schon mit dem Dreiteiler "Die Wölfe" großes zeitgeschichtliches Fernsehen gemacht hat, verzichtet bei der Inszenierung und vor allem der Führung seiner ausnahmslos herausragenden Darsteller konsequent auf große Gesten; und auf Schuldzuweisungen. Schmidt erzählt die Handlung überwiegend aus der Perspektive der beiden Elternpaare: hier die Molitors, die in West-Berlin leben und seit einigen Jahren wenigstens Briefkontakt zu ihrer Tochter haben; dort das Leipziger Ehepaar Pramann (Herbert Knaup, Ulrike Krumbiegel), das vor 15 Jahren die kleine Rebecca adoptiert hat.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Der Film beginnt mit dem gescheiterten Fluchtversuch der Molitors im Jahr 1974 und springt dann in die Gegenwart des Februars 1989. Frank Pramann arbeitet für die Staatssicherheit und muss die DDR immer öfter gegen seine Frau verteidigen. Als ihre Tochter Rebecca (Henriette Confurius), die bis heute nichts von der Adoption weiß, einen Jungen aus Braunschweig kennen lernt, spürt sie erstmals, dass sie in einem riesigen Gefängnis lebt. Mehr und mehr übernimmt der Film nun ihre Perspektive. Parallel erfährt man, dass Heike Molitor systematisch betrogen wird: Die vermeintlichen Briefe der Tochter schreibt in Wirklichkeit Miriams frühere Kindergärtnerin Brigitte Schröder (Renate Krößner). Auch sie wird dazu gezwungen, auch sie stellt sich mehr und mehr gegen ihren Mann (Veit Stübner), einen SED-Funktionär; schon "Das Wunder von Berlin" (ZDF) hatte nahegelegt, das Ende der DDR sei vor allem von den Frauen vorangetrieben worden.
Natürlich kommt der Film nicht ohne Demonstrationsszenen aus, doch ungleich spannender sind die vielen kleinen Geschichten, mit denen Schmidt und Fromm die große Geschichte erzählen. Zum Beispiel Pramanns Gewissensbisse: Er hatte seine Vorgesetzten darauf hingewiesen, dass ein Kollege politisch nicht mehr zuverlässig sei, und verhilft zur Wiedergutmachung dessen Frau zur Flucht, was ihn in den Augen der eigenen prompt zum Helden macht. Heike Molitor wiederum muss die Briefe ihrer Tochter mit Informationen über die Arbeit ihres Mannes bezahlen, bis Brigitte Schröder schließlich den Betrug gesteht und Miriams Adresse schickt. Als die Molitors daraufhin an Rebecca schreiben, bricht die Welt des Mädchens zusammen; und kurz darauf das gesamte morsche System, so dass der Weg frei ist für eine erste scheue, aber ungemein berührend inszenierte Familienzusammenführung.
In Leipzig spricht niemand sächsisch
Fromm hat schon bei "Die Wölfe" bewiesen, wie gut er junge Darsteller führen kann. Unter ihnen war auch Henriette Confurius, 2004 beim Deutschen Fernsehpreis mit dem Förderpreis geehrt, die sich hier problemlos neben den großen Kolleginnen und Kollegen zu behaupten weiß. Auch Franz Dinda (als Miriams Bruder) setzt mit wenigen Auftritten markante Akzente. Nicht minder ausgezeichnet ist das Szenenbild von Frank Godt, der wie Kostümbildnerin Monika Hinz ebenfalls an dem Ost/West-Dreiteiler beteiligt war. Gemeinsam mit Kameramann Hanno Lentz haben sie großen Anteil an der optischen Authentizität und der düsteren, freudlosen Grundstimmung, die sich immer wieder wie Mehltau über die Bilder legt.
Ein Detail allerdings passt überhaupt nicht ins ansonsten so stimmige Gesamtbild: Wie immer bei Fernsehfilmen, an denen der MDR mindestens beteiligt ist, spricht gegen alle Realität in Leipzig niemand sächsisch.