Stockholm (epd)Ihre Schilderungen vom starken Mädchen Pippi Langstrumpf und der heilen Bullerbü-Welt Schwedens haben Generationen geprägt. Jetzt erscheinen in Deutschland fast gleichzeitig die Übersetzungen dreier neuerer Werke, die sich mit Astrid Lindgren (1907-2002) beschäftigen: Lindgrens Kriegstagebücher aus den Jahren 1939 bis 1945, die Biografie des Dänen Jens Andersen "Ihr Leben" und Astrid Lindgrens Briefwechsel mit einem Teenager "Deine Briefe lege ich unter die Matratze", in Schweden bereits 2012 herausgekommen. Sie zeichnen das Bild eines politischen, freiheitsliebenden Menschen, der Melancholie kannte und Einsamkeit suchte.
Schade, dass niemand Hitler erschießt
3.000 Seiten hatte Astrid Lindgren zwischen dem 1. September 1939 und Silvester 1945 in ihrem Kriegstagebuch gefüllt ("Die Menschheit hat den Verstand verloren", Ullstein-Verlag), in Schweden im Mai erschienen. Der erste Eintrag: "Heute ist der Krieg ausgebrochen. Gestern schimpften wir noch in aller Gemütlichkeit auf Hitler und stimmten darin überein, dass der Krieg nicht kommt - und heute!", notiert die Sekretärin, verheiratet und Mutter von zwei Kindern, in ihrer Stockholmer Wohnung. "Es ist schade, dass niemand Hitler erschießt", konstatiert sie im Oktober 1939 nach der Kapitulation Polens.
Die Abscheu gegen Hitler ist groß, doch als die Rote Armee im Sommer 1940 die baltischen Staaten besetzt, wächst die Furcht vor den Russen: Sie glaube eher, schreibt sie, "dass ich mein ganzes Leben lang 'Heil Hitler' sage, als den Russen ausgeliefert zu sein".
Seit Lindgren begonnen hat, für die Postzensur des Geheimdienstes zu arbeiten, verfügt sie auch über eine andere Informationsquelle. Im November 1940 schreibt sie dann: "Ich kann niemals an ein Regime glauben, das Konzentrationslager in Oranienburg und Buchenwald erschaffen und die Pogrome im Herbst 1938 zugelassen und unterstützt hat und ein norwegisches Mädchen zu einem Jahr Gefängnis verurteilt hat, weil es ein Bild des Führers zerrissen hat".
Die Kriegstagebücher weisen auch Lücken auf. Im Sommer 1944 werden die Einträge spärlicher. Jens Andersens Biografie "Ihr Leben" (DVA) erklärt, warum: Im Kapitel "Eine Bombe an der Heimatfront" beschreibt der dänische Schriftsteller und Literaturkritiker, was Astrid Lindgren im Tagebuch nur zurückhaltend, aber bitter andeutet.
Ihr Mann Sture gesteht ihr seine Liebe zu einer anderen Frau. Wenig später bekommt sie vom Verlag Bonnier eine Absage, Pippi Langstrumpf herauszugeben. Aus der Geschichte, die sie seit 1941 für ihre Tochter Karin erst erzählt und dann aufgeschrieben hatte, war ein Manuskript geworden, das dann erst 1945 im Verlag Rabén und Sjögren als Buch erschien.
Vielschichtige Persönlichkeit
Andersens Lindgren-Biografie kam in Dänemark im vergangenen Herbst heraus und folgt in Deutschland auf jene von Birgit Dankert aus dem Jahr 2013. Andersen fokussiert sich sehr auf die Bücher der Schriftstellerin, zeichnet aber mit viel Sorgfalt und Empathie auch das Bild einer vielschichtigen Persönlichkeit. Nicht nur Gespräche, die er mit Astrids Tochter Karin Nyman geführt hat, bestätigen, dass die berühmteste Kinderbuchautorin der Welt ein melancholisches Naturell besaß und bewusst die Einsamkeit wählte.
Das wird auch dem Leser des ungewöhnlichen Briefwechsels "Deine Briefe lege ich unter die Matratze" klar. Zwischen Astrid Lindgren und der anfangs 12-jährigen Sara Ljungcrantz entspann sich - 50 Jahren Altersunterschied zum Trotz - ein Dialog, der sich über 30 Jahre erstreckte. Eine Sammlung von 80 Briefen erscheint jetzt auch auf deutsch im Verlag Oetinger.
Sara wird bei Astrid Lindgren ihren Kummer und Weltschmerz los. Im Gegenzug gibt sich die Autorin gegenüber der erwachsenen Sara mit den Jahren immer offener und berichtet, dass sie ihre eigene Jugend oft als deprimierend empfunden habe.
Leben ein verdammtes Spektakel
Mit 19 und 20 habe sie oft an Suizid gedacht, bekannte Lindgren. Erst später habe sie erfahren, dass "das Leben nicht so mies ist, wie es scheint". Dieses Zitat fand Jens Andersen, als er sich bei seiner Recherche durch das Lindgren-Archiv der Königlichen Bibliothek grub, auch in einem anderen Zusammenhang: Im Oktober 1928 schrieb Astrid Lindgren an ihre beste Freundin: "Ja, sicher ist das Leben ein verdammtes und sinnloses Spektakel! Manchmal finde ich, es ist wie in einen Abgrund zu starren aber manchmal tröste ich mich mit 'Life ist not so rotten as it seems'".
Andersen beginnt seine Beschreibung von Astrid Lindgrens Leben mit den Jugendjahren statt mit der Kindheit. Die behütete Bauerntochter aus Småland wandelt sich zur rebellisch-burschikosen jungen Frau mit kurz geschnittenem Haar. Sie wird Volontärin für die Vimmerby-Zeitung, von dessen Chefredakteur sie später ein Kind bekommt, ihren Sohn Lasse. Lasse wächst in Dänemark in einer Pflegefamilie auf.
Astrid Lindgren, die jetzt in Stockholm lebt, besucht ihn so oft sie kann und holt ihn später zu sich. Sie ist von Schuldgefühlen geplagt. Andersen beschreibt dies nicht nur mit viel Einfühlungsvermögen und Respekt. Er zieht auch eine Parallele zu all den einsamen und verwundbaren Jungengestalten in Lindgrens Büchern.
Deutsche Leser der Biografie wird der Name Louise Hartung überraschen. Mit der Berlinerin, die Wegbegleiterin von Kurt Weill und Lotte Lenya war, verband Astrid Lindgren eine jahrelange Freundschaft. Aus der Korrespondenz der beiden resultierten in elf Jahren allein 600 Briefe. Damit komplettiert Jens Andersen das Bild dieser streitbaren Persönlichkeit Astrid Lindgren, die 1978 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt, die gegen Steuerpolitik wetterte und für Tierschutz eintrat und zeitlebens die Rechte der Kinder verteidigte.