Für manch’ einen Münchener wär’s wohl ein Traum, aber der Titel dieses "Tatorts", "Die letzte Wiesn", steht nicht für das Ende des Oktoberfestes. Er bezieht sich vielmehr auf das Ende von allem, und womöglich geht für die Betroffenen ein ganz anderer Traum in Erfüllung: wenn schon sterben, dann betrunken und auf dem größten Volksfest der Welt. Da die Todesfälle nicht natürlicher Natur sind, sieht die Polizei den Abschied für immer naturgemäß weniger romantisch, und witzig ist die Sache ohnehin nicht: Irgendjemand träufelt den Besuchern eines bestimmten Festzelts die Partydroge Liquid Ecstasy ins Bier. Im besten Fall sind die Opfer bloß ohnmächtig, aber dann stirbt ein Italiener quasi in den Armen von Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl). Der ist gerade auf dem Weg in den Urlaub und hält den Touristen im U-Bahnhof für einen der unzähligen Betrunkenen.
Da die Ermittler zunächst noch nichts davon ahnen, dass ein Serientäter sein Unwesen treibt, ist der Einstieg in die Geschichte gut gelaunt: Der aus den Ferien heimgeholte Leitmayr hat seine Wohnung an zwei Schwedinnen vermietet und kommt vorübergehend beim Kollegen Batic (Miroslav Nemec) unter, der wiederum trinkfreudigen Besuch aus der kroatischen Heimat hat und sein Domizil für die frömmelnden älteren Damen in das Heim eines guten Christenmenschen verwandelt hat. Aber dann wird’s ernst. Die Politik sieht keine Veranlassung, das Festzelt zu schließen, weil dies den Eindruck erwecken würde, man könne nicht für die Sicherheit der Wies’n-Besucher garantieren. Die Polizisten müssen sich daher mit der scharfkantigen Besitzerin (Gisela Schneeberger) des Amüsierbetriebs rumschlagen; und natürlich mit den renitenten Besuchern. Für Leitmayr ergibt sich in Gestalt der hübschen Kellnerin Ina (Mavie Hörbiger) immerhin ein Lichtblick, und als er einen allzu zudringlichen Gast in die Schranken weist, darf er sogar auf ihrem Sofa schlafen, was ihn der Wahrheitsfindung am Ende aber näher bringt, als ihm lieb ist.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Das Drehbuch stammt von dem erfahrenen Autorenduo Stefan Holtz und Florian Iwersen. Gemeinsam haben sie mehrmals für die Krimireihe "Donna Leon" gearbeitet, aber auch zwei Kluftinger-Krimis geschrieben; das erklärt den mehrfachen Stimmungswechsel des Films, der dank einiger skurriler Momente weiterhin nicht bloß spannend, sondern auch unterhaltsam ist. Regie führte Marvin Kren, ein noch vergleichsweise junger Regisseur, der unter anderem zwei "Tatort"-Episoden mit Wotan Wilke Möhring inszeniert hat ("Die Feigheit des Löwen"), wobei gerade der Drohnenkrimi "Kaltstart" ein sehenswerter und vor allem optisch reizvoller Überwachungs-Thriller war. Sein damaliger Kameramann Moritz Schultheiß war auch diesmal für die Bildgestaltung verantwortlich; gerade die Lichtsetzung macht den Reiz vieler Szenen aus.
Akustisch allerdings werden Nordlichter einige Probleme haben, denn "Die letzte Wiesn" ist ein sehr bayerischer "Tatort". Das gilt nicht nur für die Dialoge, sondern auch für den krachledernen Umgangston, der im Festzelt herrscht. Selbst die Musik sorgt für Dissonanzen, weil ein etwas seltsamer junger Mann den Ort des Verbrechens mit Kopfhörern betritt, aus denen wummernde Elektroklänge wabern; ein heftiger Kontrapunkt zur volkstümlichen oder schlagerbetonten Festzeltmusik. Die Bilder sind ebenfalls nicht immer leicht verdaulich, und das keineswegs bloß, weil immer wieder mal Neonröhren flackern. Einen Überfall auf den leitenden Mitarbeiter der Zeltbesitzerin hat Kren mit brutaler Intensität gefilmt. Auf der anderen Seite gibt es Einstellungen, die regelrecht Kunst sind, etwa, als gegen Ende eine Taube auf dem leblosen nackten Körper des Mörders sitzt. Der Fall ist damit aber noch nicht gelöst, denn als der Mann bereits tot war, gab es ein weiteres Opfer; und nun wird der Film zur Tragödie.