Iona, mein Herz. Iona, meine Liebe. Genauso so wie Du einmal warst, so sollst Du immer sein.
Die gälische Prophezeiung spukt mir im Kopf herum als ich das schlichte Zimmer in meinem neuen Heim betrete. Eine ehemalige Klosterzelle, ohne Zentralheizung, ohne jeglichen Komfort. Es ist kalt im Abbey, dem Kloster von Iona, arschkalt. Ein eisiger Wind jagt um das alte Gemäuer aus dem 12. Jahrhundert, pfeift und kreischt. Ich drehe seufzend an dem Mini-Heizungskörper herum, einer Art mobiler Wärmemaschine für Frostködel wie ich einer bin, die sich hier für eine Woche einquartiert haben, und ziehe sofort wieder meine Jacke an. Eigentlich wollte ich hier ankommen, in Wärme und Gelassenheit. Ich wollte meine Seele baumeln lassen. Das kann ja heiter werden!
"Reflection on action" heißt die Woche in dem Kloster, das die Gemeinschaft von Iona dreimal pro Jahr anbietet. Ich bin eine von 19 Teilnehmern. Die maximale Anmeldungszahl betrug 20 und eigentlich hieß es, für mich sei kein Platz mehr, ich könne allerdings für das gegenüberliegende Macleod Center buchen. Aber dann schrieb mich Wendy aus der Verwaltung an. Ich könne doch noch bei der Reflection-on-action-Woche dabeisein, jemand sei abgesprungen. Noch in Hamburg, am Computer vor der Abreise, las ich die Mail aus Schottland und freute mich. Als begeisterte Taizé-Anhängerin hatte ich schon viel von Iona gehört, dieser magischen Insel zwischen Irland und Großbritannien. Jetzt laufe ich durch den Gang und sehe, dass es nur eine einzige Dusche auf dem Flur für uns Frauen gibt. Viele der Teilnehmer hier sind älter als 60 Jahre. Rentenalter, denke ich, die haben doch schon die Arbeitswelt hinter sich gebracht. Ich höre schottische knorrzige Worte (sorrrry, mit knarrendem R), gepresste amerikanische Sätze und ein very British English. Verdammt, denke ich. Jetzt arbeitest Du schon seit zwei Jahren in der Internationalen Entwicklungszusammenarbeit und bist sprachlich eigentlich ganz gut drauf - aber das hier sind alles englische Muttersprachler! Auf einmal scheint die Euphorie, nach Iona zu fahren und meinen Glauben hier zu hinterfragen und zu vertiefen, tief versackt wie in einem schottischen Moor.
Beim Dinner im Refektorium, dem alten Speisesaal der Mönche der ehemaligen Benediktinerabtei, sitzen wir an großen Holztischen. Die ersten Bekanntmachungen, announcements, werden mitgeteilt. Jeder, der hier ankommt, ist Gast und gleichzeitig Teil der Iona-Gemeinschaft. Ich gehöre jetzt zur Familie, und das bedeutet, das ich auch arbeiten muss. Tischdecken und Duschen putzen stehen an. Bete und arbeite, worship and pray, ist eine der vier Iona-Prinzipien. Die Gemeinschaft wurde von Dr. George McLeod gegründet, einem schottischen Pfarrer, dessen Schwarz-Weiß-Bild am Eingang des Speisesaal hängt. Der Theologe kam 1937 mitten in Englands schwerster Wirtschaftskrise auf die karge Insel und brachte dort jeweils sechs Nachwuchspfarrer und sechs arbeitslose Männer zusammen. Gemeinsam bauten sie das verfallene Kloster nah am Meer gelegen wieder auf. Ein Zauber muss von diesem Mann ausgegangen sein, der diese Gemeinschaft mit soviel Elan und Charisma zu einer weltweiten Bewegung aufbauen konnte, denke ich.
Aber ich kann diese Magie nicht spüren. Ich starre McLeods Bild an und stelle mir vor, wie die Gruppe der Männer jahrelang mit Schaufeln, Mauersteinen und Zement bei Wind und Wetter Stein auf Stein setzte. Solange, bis das Gemäuer wieder trug. Dideree, eine Amerikanerin aus Idaho, erzählt, dass sie schon zum dritten Mal hier ist. Iona sei "just wonderful", einfach wundervoll. Helena hat den langen Weg von Londons Südwesten auf die Insel gewagt. 5 Stunden Zugfahrt über Glasgow, dann mit der Fähre von Oban auf die Insel Mull und von Mull nach Iona. Wer sich auf den Weg macht, der muss Opfer bringen. Iona erreicht man nur schwer. Warum begeben sich trotzdem so viele Menschen auf diese beschwerliche Reise?
Iona, meine Liebe. Iona, mein Herz. Genauso so wie Du einmal warst, so sollst Du immer sein.
Die Woche ist durchstrukturiert. Das kapiere ich spätestens am Sonntag. Die Gemeinschaft von Iona überlässt nichts dem Zufall. Samstag Anreise. Freitags Abreise. Feste Mahlzeiten, 8 Uhr, 13 Uhr, 18 Uhr. Die Mahlzeiten sind vegetarisch, wer Gluten- oder Laktosefrei isst, bekommt Extra-Speisen. Der Morgen- und der Abendgottesdienst folgen immer denselben Mustern. Aber die Themen sind anders, je nach Tag. Ich lerne, dass es einen Abendmahlsgottesdienst gibt und einen Heilungsgottesdienst. Einen für Frieden und Gerechtigkeit und einen für Engagement und Verbindlichkeit. Dass Richard, der Musikkoordinator, uns jedes Mal mit weichem Pianospiel begrüßt, wenn wir die Kirche betreten.
Abends leuchtet Kerzenschein über den alten holzgeschnitzten Stühlen in der Kirche, das Gebets- und das Gesangbuch der Gemeinschaft von Iona liegt auf jedem Platz für uns aus. Jeder, der hier mitlebt, kann einen Gottesdienst gestalten, darf die Lesung vortragen, hat eine Funktion. Dora ist die erste, die uns begrüßt. "Ich bin Dora und arbeite hier als Teil der Iona-Gemeinschaft", sagt die zierliche junge Frau aus Uganda. "Bitte stellt eure Mobiltelefone aus, denn sie irritieren unser Soundsystem." Sie kündigt an, was wir als nächstes lesen, welchen Psalm, und welches Lied wir singen. Dora zieht die Vokale in die Länge, wenn sie Englisch spricht, und senkt ihre Stimme an Stellen ab, an denen Europäer sie eher hochschrauben. Man merkt, dass sie eigentlich eine andere Muttersprache hat. Es rührt mich, wie sie mo-bi-le-pho-ne sagt, so als würde sie über etwas Erstaunliches sprechen, das nicht in diese heilige Welt gehört.
Iona, meine Liebe. Iona, mein Herz. Genauso so wie Du einmal warst, so sollst Du immer sein.
Es ist einfach in Iona zu leben, weil hier niemand ausgeschlossen wird. Alle sind gleich wichtig, alle können teilnehmen, schießt es mir durch den Kopf. So muss es auch Columba gewollt haben. Den Berichten nach landete der Mönch Columba am Südende 563 n. Christus auf der Insel und gründete die erste christliche Gemeinschaft. Damit ebnete er den Weg für den keltisch-christlichen Glauben, der sich in Schottland und England ausbreitete. Sein Herrscher hatte dem Mönch befohlen erst dann zu siedeln sobald er das Festland - Irland - nicht mehr sehen könne. Columba vergoss Tränen vor Sehnsucht darüber, die die Inselbewohner heute "Columba's Tears, Columbas Tränen" nennt. Grüne, glasige Steine. Wer Glück hat, findet welche. Als ich mit Anne, einer australischen Krankenschwester aus meiner Gruppe, am Strand spazieren gehe, ruft sie begeistert auf: Sie hat zwei Tränen gefunden! Wir beschließen, dass es echte sind und nicht nur angespültes, geschliffenes Glas.
Iona, meine Liebe. Iona, mein Herz. Genauso so wie Du einmal warst, so sollst Du immer sein.
Jeden Tag sitzen wir zweimal zusammen. Ally, ein langjähriges Mitglied der Gemeinschaft, führt uns auf unserem Weg in dieser Woche durch die Tage. Die Mitglieder sind Menschen, die langjährig mit der Gemeinschaft verbunden sind und sich entscheiden, diese finanziell und durch ihren persönlichen Einsatz verbindlich und weltweit mitzutragen. Auch in Deutschland gibt es mittlerweile eine Handvoll Mitglieder. Ally nennt die Reflektionen für uns God's journey, Gottes Reise. Was will Gott für mich? Wo führt er mich hin? Bei diesen Fragen komme ich gedanklich ins Straucheln und beiße mich fest. Hatte ich nicht immer geglaubt, dass Gott mir Seele und Verstand gegeben hat, damit ich genau das selber entscheide? Bin ich mündig oder entmündigt? Ich texte für mich um: Gott will was für mich. Und ich auch. Manchmal sehe ich Entscheidungen klar vor mir. Und manchmal sind sie nur sehr verschwommen oder gar nicht sichtbar.
Der Dienstag knüpft genau dort an, denn wir machen eine Pilgerwanderung über die Insel. Iona sei ein "zartes Inselland, lediglich ein Papiertaschentuch, das das Materielle vom Spirituellen trenne", hat George Macleod einmal gesagt. Ich verstehe den Satz nicht bis wir an einer Kreuzung halten. Die beiden Wanderführer lesen aus der Bibel, zitieren kurze Gedichte und erzählen historische Ereignisse. In dem 6. Kapitel bei Jeremias steht, dass Gott uns dazu auffordert, an Kreuzungen unseres Lebens stehenzubleiben, zurückzusehen und vorwärts zu schauen. "Fragt, wo der gute Weg ist und beschreitet ihn. Und eure Seelen werden getröstet sein", heißt es dort.
Iona, meine Liebe. Iona, mein Herz. Genauso so wie Du einmal warst, so sollst Du immer sein.
Am Mittwoch gibt es ein Guest Concert, eine Art Kulturabend. Jeder, der möchte, kann etwas vortragen. Wir treffen auf die dänische Pilgergruppe im Mac Leod Center gegenüber des Klosters, die dort untergebracht ist. In dem Gebäude haben noch einmal bis zu 40 Menschen Platz, die ebenfalls die Gemeinschaft von Iona kennenlernen möchten, aber in ihrer Freizeitgestaltung etwas offener sind als die gut organisierte Reflection-on-action-Gruppe. Normalerweise wäre das Guest Concert etwas für mich, ich führe gerne Sachen auf. Aber ich fühle mich gehemmt, mein Englisch ist zu schlecht für so ein Publikum. Und dann stolpere ich über einen Text. Im Klosterladen gibt es eine gut sortierte Bücherecke und ich erstehe ein Buch, das Texte, die bei der Pilgerwanderung gelesen werden, beinhaltet. "Über Gott, Mann und Frau", heißt das Stück und ich ahne als ich es auf meinem Bett lese, dass ich gerade ein kleines Juwel gefunden habe. Es geht um Adam und Eva, Delia und Samson, Noah und Jesus. Eva ist darin Vegetarierin und isst den falschen Apfel. Delia ist Friseurin und schneidet Samsons Mähne ab. Noah trinkt zu viel und alle Frauen beschließen nach dem Untergang von Sodom und Gomorrha, dass sie niemals wieder in ihrem Leben zurückblicken werden. Das Publikum lacht sich tot.
Am nächsten Tag fragen mich rund 20 Leute, wo ich den Text herhabe und ob ich professionelle Schauspielerin sei. Ich grinse. Eine Dänin vergleicht mich mit einer berühmten dänischen Kabarettsängerin. Ich freue mich über so viele Komplimente. Aber viel wichtiger ist mir, dass der Abend eine Bühne war für uns alle. Vorhang auf für das Leben, ganz egal, welches Niveau. Andy, der Klarinetten-Spieler mit dem kurzem Atem. Yvonne mit der durchdringenden, etwas brüchigen Sopranstimme. Helena mit dem genetischem Augendefekt, die keine Farben mehr erkennen kann. Wir alle sind willkommen in Iona. Ich beschließe, ein Stückchen Mut mit nach Hause zu nehmen, mehr da draußen zu wagen. Ich begreife allmählich, dass der Gemeinschaft etwas Lebenswichtiges gelingt: Jedem zu zeigen, dass er wertvoll ist. In einem Raum jenseits von Wertung und Urteil.
Iona, meine Liebe. Iona, mein Herz. Genauso so wie Du einmal warst, so sollst Du immer sein.
Der Abschlussgottesdienst am Freitagmorgen entlässt uns auf das Festland. Unsere Gruppe reist mit der 9-Uhr-Fähre ab. Wir laufen durch den Kreuzgang, hoch den Pfad vorbei am Martinskreuz und den vielen Gräbern der schottischen Könige, durch das verfallene Nonnenkloster und hinunter zum Pier. Alle Volontäre und Mitarbeiter der Iona-Gemeinschaft sind gekommen, um uns zu verabschieden. Zum Abschied formen sie eine Welle für uns, la Ola, wie in einem Fußballstadium. In meinen Augen glitzern Tränen. Ich renne auf das Deck und winke ihnen noch einmal zu ."Als ich nach Iona kam, dachte ich, das ist das Ende der Welt. Jetzt nach einer Woche weiß ich: Es ist der Anfang", hat eine dänische Pilgerin die Reise beschrieben.
Iona, meine Liebe. Iona, mein Herz. Genauso so wie Du einmal warst, so sollst Du immer sein.
Jetzt weiß ich, es stimmt. Iona ist Magie und pures Leben zugleich.
Dieser Text wurde am 17. September 2015 auf evangelisch.de veröffentlicht.