René Karsubke, ehrenamtlicher Mitarbeiter der Bahnhofsmission, an Gleis 24 am Frankfurter Hauptbahnhof.
Foto: Lilith Becker/evangelisch.de
René Karsubke, ehrenamtlicher Mitarbeiter der Bahnhofsmission, an Gleis 24 am Frankfurter Hauptbahnhof. Hier werden ankommende Flüchtlinge mit Essen und Kleidung versorgt. Feuerwehr und Bundespolizei verteilen die Menschen von hier aus auf ihre ersten Unterkünfte.
Ist genug für alle da? Arm begegnet Flüchtling
Die Stimmung in Deutschland ist überwältigend, in zwei Richtungen: Euphorie und Apokalypse-Gedanken liegen seit Wochen eng beieinander. Täglich kommen tausende Flüchtlinge nach Deutschland. Ist genug für alle da? Ein Besuch bei der Bahnhofsmission und der Tafel – dort, wo Bedürftige auf ebenso bedürftige Flüchtlinge treffen.

Am Frankfurter Hauptbahnhof beklatschte ein freiwilliges Begrüßungskomittee wohlgesonnener Bürger vor zwei Wochen den ersten Flüchtlingszug aus Ungarn. Viele hatten Essen, Getränke, Kleidung und Stofftiere für die Kinder mitgebracht. Eine ältere Frau stand lange Zeit da, wurde ihren Stoffteddy nicht los, den sie gerne einem Kind schenken wollte. Ein Bundespolizist nahm ihr den Teddy schließlich ab, versprach, ihn weiterzugeben.

In Dresden marschiert 'Pegida' weiter auf, AfD und NPD verzeichnen potenzielle Neu-Wähler. Laut der Chronik von Pro Asyl und Amadeu Antonio Stiftung ist die Zahl der Übergriffe auf Flüchtlinge in Deutschland im August so hoch, wie in keinem Monat des Jahres 2015 zuvor. Das Jahr 2015 knackt Rekorde: in Sachen Angriffe auf Flüchtlinge; in Sachen Hilfe für Flüchtlinge. Hass oder Hilfe? Angst oder Zuversicht? Welche Emotionen und Motive werden die Stimmung in Deutschland dominieren?

"Gibt es bald wieder den Faschismus?"

Gerda Füllgrabe ist 81 Jahre alt. Sie hat den Zweiten Weltkrieg erlebt. Auf ihrer Flucht beobachtete sie, wie SS-Aufseherinnen Frauen und Kindern aus den KZs Gewehrkolben in den Rücken stießen, um sie voranzutreiben. Dann die Feindschaft der im Westen Ansässigen, die zwangsweise geflüchtete Familien zugewiesen bekamen. Das war kurz nach dem zweiten Weltkrieg. "Und jetzt?", fragt Gerda Füllgrabe, "Gibt es bald wieder den Faschismus?" Sie hat Angst, wenn sie sieht, wie Flüchtlinge eine Grenze überrennen, wenn sie sieht, wie Polizisten Wasserwerfer und Tränengas gegen Familien richten, wie an der ungarischen Grenze geschehen.

Gerda Füllgrabe engagiert sich seit 14 Jahren für die Tafel in Langen.

Die 81-Jährige arbeitet seit 14 Jahren für die Tafel in Langen, die viermal in der Woche gespendete Nahrungsmittel-Reste aus Supermärkten und von Landmärkten an Bedürftige verteilt. Jeder, der seine Bedürftigkeit amtlich belegen kann, bekommt Lebensmittel. Kurz bevor die Ausgabe beginnt, wird gelost: Jeder zieht eine Nummer. In der gelosten Reihenfolge dürfen die Menschen für zwei Euro kaufen, was das Angebot hergibt. Es gibt einen Bereich, in dem die Menschen sitzen, sich unterhalten und warten, bis sie dran sind.

Es geht geordnet zu. Insgesamt 48 ehrenamtliche Mitarbeiter sammeln, sortieren und verteilen Lebensmittel und Blumen-Spenden. Kamen lange Zeit um die 60 Menschen an zwei Tagen, kommen nun viermal so viele an vier Tagen die Woche. Darunter auch zunehmend Flüchtlinge. Gerda Füllgrabe macht sich Sorgen um die, die sie unter den Bedürftigen hier schon lange kennt. "Werden wir uns noch genug um sie kümmern können, wenn noch mehr Menschen kommen?", fragt sie.

"Es reicht für alle", sagt hingegen Friedelgaard Pietsch und klopft auf Holz. Sie gründete den Tafel-Verein in Langen vor 14 Jahren und ist dessen erste Vorsitzende. "Migranten gehören schon immer zu unseren Kunden", sagt sie. Mittlerweile gehören Asylsuchende zur Mehrheit der Tafel-Kunden. Friedelgaard Pietsch macht sich bisher keine Sorgen um das Engagement der Freiwilligen oder die Spendensituation. Sorgen machen ihr die Menschen, die Hass sähen - ohne jede vernünftige Grundlage.

Friedelgaard Pietsch (li) und Inge Obst von der Tafel in Langen.

Seit Oktober 2014 hat die Tafel ihre Räume im Erdgeschoss eines Wohnhauses aus den 1960er Jahren. Einige Bewohner der darüberliegende Eigentumswohnungen, aber auch Nachbarn angrenzender Häuser, sind dagegen, dass die Tafel im Erdgeschoss Bedürftige versorgt.

'30 Prozent hat unsere Immobilie euretwegen an Wert verloren', 'Ich kann mein Schulkind nicht an eurem Laden vorbeilaufen lassen, wenn dort Junkies herumhängen', 'Die Leute wollen euer Essen nicht, sondern nur unsere Wohnungen ausspionieren, sodass sie bei uns einbrechen können'. Alles das musste sich Friedelgaard Pietsch schon anhören. Auch der Pfarrer des angrenzenden Bezirks, Steffen Held, erinnert sich an einige dieser Aussagen, als besorgte Anwohner diese auf einer öffentlichen Veranstaltung vor Einzug der Tafel im Langener Stadtteil Linden vortrugen.

"Da, wo wir soziale Arbeit als Kirche machen, wo es um Randgruppen geht, gibt es eigentlich immer Reibungspunkte mit der Bevölkerung", sagt Steffen Held. "Ihr macht ja gute Arbeit", heiße es oft. "Aber bitte nicht vor unserer Haustür."

Manchen Menschen ist ihr Vorgarten extrem wichtig: Sauber soll es dort sein. Die Vögel dürfen an der Tränke sitzen und zwitschern. Der Flüchtling oder Obdachlose sollen diese Idylle aber bitte nicht trüben. Selbst Kindergartenkinder sind in Wohngebieten oft unbeliebte Nachbarn.

Die Tafel in Langen wird nur von Ehrenamtlichen und Spendern getragen. Sie ist eine Form der sozialen Hilfe, die wir in diesem Land heute dringend brauchen. Sie ist, im Gegensatz zu vielen anderen Initiativen, die im Zuge der Flüchtlingswelle entstehen, organisiert. Könnte man da nicht von denjenigen, die in diesen Zeiten nichts tun, wenn schon nicht Dankbarkeit, dann doch Akzeptanz erwarten?

Sowohl für die Tafel als auch für die Bahnhofsmission am Hauptbahnhof in Frankfurt gelten Hausordnungen, die geschulte Mitarbeiter durchsetzen: Wer Krawall macht, bekommt Hausverbot, lautet eine wichtige Regel.

Von Gleis 24 aus, dort wo der erste Zug aus Ungarn beklatscht wurde und Kinder Teddies bekamen, verteilen Feuerwehr und Bundespolizei seit September 2015 die Flüchtlinge auf Busse und Züge, die Unterkünfte in ganz Hessen anfahren. Nachdem die Bahnhofsmission angesichts des Ansturms diese Aufgabe nicht mehr bewältigen konnte.

"Der feine Herr fährt Taxi"

Gestrandete Flüchtlinge, darunter viele Migranten, kommen trotzdem jeden Tag und jede Nacht. Wie die verwirrt wirkende Frau Mitte 30, die früh am Morgen die Tür zur Bahnhofsmission öffnet. Sie habe ihren Pass verloren, soviel hatten die Mitarbeiter verstanden. Zum zweiten Mal war die Frau nun da. Schon vor einer Woche hatten sie versucht, ihr zu helfen. Doch die Frau war einfach verschwunden.

Verwirrt wirkende Menschen begegnen den Mitarbeitern der Bahnhofsmission täglich. Eine Ehrenamtliche ruft verschiedene Konsulate an. Das litauische Konsulat in Berlin ist zuständig für die Frau, die nicht mal eine Tasche bei sich trägt, mit zitternder Hand streift sie rastlos über die Theke des Empfangs, während sie mit einem Übersetzer des Konsulats telefoniert, der wiederum der ehrenamtlichen Mitabeiterin Auskunft gibt. Am Abend soll die Frau den Bus nach Berlin nehmen. Ein Mitarbeiter der Bahnhofsmission besorgt ihr ein Ticket.

Alltag für die Mitarbeiter der Bahnhofsmission: René Karsubke (re) hilft Menschen mit körperlichen Beeinträchtigungen beim Umsteigen.

Einmal habe sich ein "Stammkunde" der Bahnhofsmission beschwert, weil ein junger Flüchtling mit dem Taxi zur Bahnhofsmission gelangte, dass ihm seine Erstaufnahmeeinrichtung bezahlt hatte. "Mit unseren Steuergeldern fährt der feine Herr jetzt Taxi", hatte der obdachlose Stammkunde gesagt, erzählt Sigrid Bender. "Da schreite ich dann ein und erkläre, dass das Jugendamt für einen Minderjährigen die Obhut hat und ihn nicht alleine durch die Stadt fahren lassen darf."

"Wir wollen einen positiven Eindruck bei den Leuten hinterlassen", sagt Sigrid Bender, "Flüchtlinge verdrängen unsere Bedürftigen hier nicht." Seit acht Jahren, so erzählt Sigrid Bender, gehörten Flüchtlinge, vor allem aus Südosteuropa, zu den häufigsten Besuchern der Bahnhofsmission. Nun sind viele syrische Familien unter den Gästen. "Wir heißen jeden willkommen, der bedürftig ist oder Hilfe braucht."

Seit zwei Jahren wisse auch die Stadt Frankfurt, dass sie etwas tun müsse. "Die Bahnhofsmission ist schon immer so etwas wie ein Seismograph für sozialgesellschaftliche Veränderungen", sagt Sigrid Bender. Im Moment sieht die Öffentlichkeit die Flüchtlinge, sie sieht sie als Bedürftige.

"Was ist im Januar 2016?", fragt Helga Treulieb, ehrenamtliche Mitarbeiterin der Bahnhofsmission. Engagieren sich mehr Menschen für einen längeren Zeitraum? " Sie hat ein wenig Angst davor, was wohl im kommenden Jahr passiert, wenn die Feuerwehr die ankommenden Menschen am Hauptbahnhof nicht mehr verteilt.

"Wir haben nur ein bestimmtes Pensum, das wir erfüllen können", sagt Sigrid Bender. "Wenn wir im Januar überrant werden, dann müssen wir Prioritäten setzen." Auch jetzt schon werde die Kaffee- und Teebar manchmal erst spät oder gar nicht geöfffnet. Beschwerden habe es deswegen noch keine gegeben.

Helga Treulieb arbeitet ehrenamtlich bei der Bahnhofsmission in Frankfurt.

Die Mitarbeiter der Bahnhofsmission helfen Menschen mit körperlichen Einschränkungen beim Umsteigen, begleiten Kinder auf Reisen, kochen Kaffee und Tee für Obdachlose und sie hören Menschen zu, die reden wollen. Was geflüchtete Menschen angeht, ist die Bahnhofsmission ein Ort des Anfangs und des Endes.

Bedürftigkeit hat eine Lobby

Bei der Bahnhofsmission bekommen Asylsuchende Infomaterial zum Asylverfahren in verschiedenen Sprachen. Am häufigsten gebraucht wird arabisch und farsi. Die Mitarbeiter kaufen ankommenden Flüchtlingen ohne Geld zudem die Fahrkarten in Richtung ihrer Erstaufnahmeeinrichtung. Oder sie kaufen Tickets für Menschen, die wissen, dass sie zurück in ihre Heimat gehen müssen. Wie für die verwirrt wirkende Frau Mitte 30, die nach Berlin zur litauischen Botschaft muss, um einen neuen Pass zu beantragen, mit dem sie zurück nach Litauen fahren kann.

Am Gleis 24 geben verschiedene Bürgerinitiativen Essen und Kleidung aus. Mehr als tausend Menschen kommen jede Woche am Frankfurter Hauptbahnhof an.

Eigentlich könnte Sigrid Bender sich freuen, dass sie bei den Verantwortlichen ihrer Kommune nun eher gehört wird, da das Thema Bedürftigkeit momentan eine Lobby hat – oder zumindest gesteigerte Aufmerksamkeit erfährt. Das Leben hat sie bisher anderes gelehrt. Nämlich, dass Euphorie abklingt. So wie Deutschland jetzt ist – Menschen, die auf dem Boden des zugigen Frankfurter Hauptbahnhofs schlafen müssen, die unter Brücken in der Stadt liegen – so stellt sich Sigrid Bender ihr Land jedenfalls nicht vor.

Dieser Text erschien erstmals am 22. September 2015 auf evangelisch.de.