Zwischen bunten Bauklötzen ist ein Leerraum in Form eines Kreuzes.
Foto: Colourbox.de/Valery Voennyy/evangelisch.de (M)
Wir sind zwar verschieden, aber eins in Christus
Hintergrund zur Serie "Was glaubt ihr? evangelisch.de besucht Freikirchen"
Warum gibt es so viele evangelische Freikirchen in Deutschland? Wo kommen sie her, was glauben sie – und sind das nicht Sekten? Über Freikirchen gibt es viele Vorurteile. Deswegen stellen wir bei evangelisch.de in den kommenden Wochen in der Serie "Was glaubt ihr? evangelisch.de besucht Freikirchen" neun Glaubensgemeinschaften vor. Wir wollen mit der Serie zeigen: "evangelisch" bedeutet Vielfalt.

"Jeder, der ein Wohnzimmer und ein Musikinstrument besitzt, gründet bei uns eine Gemeinde", sagt man sich in besonders frommen Gegenden in Deutschland. In manchen Regionen gibt es tatsächlich auffallend viele evangelische Gemeinden neben denen der Landeskirche: Baptisten, Methodisten, Siebenten-Tags-Adventisten, Freie evangelische Gemeinden, Pfingstler, Mennoniten … . "Es gibt doch nur eine Kirche", wundern  sich Christen, die den großen Volkskirchen angehören und denen die Ökumene am Herzen liegt. Schon in einem Gebet Jesu im Johannesevangelium heißt es: "Ich bitte aber nicht allein für sie, sondern auch… für die, die durch ihr Wort an mich glauben werden, damit sie alle eins seien." (Johannes 17, 20-21a). Eine einzige große weltumfassende Kirche soll es geben - und geistlich verstanden gibt es sie natürlich längst.

Dass Gläubige in so viele verschiedene Gemeinschaften aufgeteilt sind, hängt mit der Reformation selbst zusammen: Nach evangelischem Verständnis können Christen selbst entscheiden, wie sie ihren Glauben leben und welche Lehre sie für richtig halten. Protestanten sind keiner Autorität außer der Bibel verpflichtet. Ihr Seelenheil ist nicht von der institutionalisierten Kirche abhängig, sondern allein vom Glauben. Wenn sich also neue Freikirchen als Protestbewegungen gegen alte Glaubenslehren gründen, dann ist das sozusagen gut protestantisch. Gerade manche Freikirchen haben übrigens sehr dazu beigetragen, dass heute die Religionsfreiheit ein Menschenrecht ist.

Woher kommen sie, was glauben sie?

Nicht nur in der Zeit der Reformation, sondern schon davor und bis in die heutige Zeit wurden und werden neue Gemeinschaften und Gemeinden gegründet, entweder weil sie mit Lehren der katholischen oder evangelischen Kirche nicht einverstanden sind, oder weil Menschen immer wieder neue Formen brauchen, die zu ihrer Lebenswirklichkeit passen. Die Taufpraxis, das Abendmahl, Bekenntnisse, Liturgie und Musik im Gottesdienst oder das Verhältnis zum Staat können dafür entscheidend sein. Auch nach Migrationsbewegungen – vor allem von Europa nach Amerika und zurück – gründeten Freikirchen ihre Ableger in der neuen oder alten Welt.

Abendmahl in der Herrnhuter Brüdergemeine.

Zeitweise gab es massive Spannungen, besonders als Freikirchen im 19. Jahrhundert in Deutschland durch Missionsbemühungen in den Verdacht gerieten, den Landeskirchen Mitglieder abzuwerben. Doch mittlerweile hat sich unter dem Dach der Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in Deutschland (ACK) eine starke Ökumene herausgebildet, und vielerorts arbeiten Kirchengemeinden und Freikirchen verschiedener Konfessionen in den lokalen Evangelischen Allianzen zusammen. Man kämpft nicht mehr gegeneinander, sondern gemeinsam mit demselben Problem: dass nämlich große Teile der Bevölkerung in Deutschland überhaupt nicht mehr religiös sind und an keiner Form von Kirche Interesse haben. Damit wächst leider auch das Unwissen über Religion, Kirche und Freikirchen.

Wir wollen bei evangelisch.de mit unserer Serie "Was glaubt ihr? evangelisch.de besucht Freikirchen" Neugierde wecken und darüber informieren, welche Glaubensgemeinschaften es in Deutschland gibt, woher sie kommen, was sie glauben, wie sie ihre Gottesdienste feiern. Einige der klassischen Freikirchen haben ihre Ursprünge in der Reformationszeit (Mennoniten) oder kurz danach (Baptisten), andere sind im 18. (Methodisten, Herrnhuter Brüdergemeine) oder 19. Jahrhundert entstanden (Freie evangelische Gemeinden, Siebenten-Tags-Adventisten), oder zu Beginn den 20. Jahrhunderts (Pfingstkirchen). Im 19. Jahrhundert bildeten sich in Deutschland außerdem die so genannten konfessionellen Freikirchen heraus, die an alten Bekenntnissen festhalten. Dazu gehören die Selbständige Evangelisch-Lutherische Kirche (SELK) und die Evangelisch-altreformierte Kirche in Niedersachsen. Sie wollten eigentlich keine "Freikirche" sein.

Evangelikal, liberal, traditionell, charismatisch, konservativ, modern,...

Der Begriff "Free Church" tauchte erst im 19. Jahrhundert in England auf, als sich Gemeinden von der dortigen Anglikanischen Kirche loslösten, und kurz darauf in der Schweiz, wo eine "église libre" entstand. Zu früheren Zeiten und in anderen Ländern wollte man gar nicht unbedingt den Begriff "Kirche" für die eigene, neue Gruppe verwenden, sondern sich vielmehr von der Staats- oder Landeskirche abgrenzen. Im angelsächsischen Bereich war von Dissentern, Separatisten, Nonkonformisten oder Independenten die Rede – eben den Abweichlern. Wieder andere Gruppen benannten sich nach ihrem inhaltlichen Merkmalen (Baptisten, Siebenten-Tags-Adventisten), nach dem Namen ihres Gründers (Mennoniten) oder mit neuem Namen im Zuge ihrer Ansiedlung (Herrnhuter Brüdergemeine).          

Abendmahl in der Freien evangelischen Gemeine Wetzlar.
     

So unterschiedlich wie Herkunft und Bezeichnungen sind die theologischen Ausrichtungen, ihre Verortung zwischen evangelikal und liberal, streng, traditionell, charismatisch, konservativ, offen, modern – welche Adjektive man auch immer zur Beschreibung heranziehen mag. Freikirchen sind keineswegs alle gleich, es gibt eine große Bandbreite. In unserer Serie geben wir einen Überblick über in Deutschland etablierte klassischen Freikirchen (Baptisten, Freie evangelische Gemeinden, Herrnhuter Brüdergemeine, Methodisten, Mennoniten und als kleine Pfingstkirche die Gemeinde Gottes). Wir wagen auch einen Blick zu den Siebenten-Tags-Adventisten und in die Apostolische Gemeinschaft, die oft unter "Sekte" einsortiert werden. Doch gerade bei den beiden letztgenannten verläuft eine bemerkenswerte Entwicklung, die nicht unerwähnt bleiben soll. Stellvertretend für die konfessionellen Freikirchen stellen wir eine SELK-Gemeinde vor.

Bei der Auswahl für unsere Serie orientieren wir uns zunächst an evangelischen Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in Deutschland (ACK). Zu diesem ökumenischen Dachverband gehören die EKD, die römisch-katholische und einige orthodoxe Kirchen, aber auch immer mehr evangelische Freikirchen. Die ACK prüft ihre neuen Mitglieder auf Herz und Nieren: ob sie "gemäß der Heiligen Schrift" beim Zeugnis der Bibel und beim Glauben an den Dreieinigen Gott bleiben. Dasselbe gilt für weitere Gemeinden, die wir aus der Mitgliederliste der Vereinigung evangelischer Freikirchen in Deutschland (VEF) ausgewählt haben. Unter diesem Dach sind Freikirchen und Gemeindebünde vereint, die gemeinsamen Grundsätzen zustimmen.

"Das sind alles unsere Schwestern und Brüder"

Selbstverständlich ist unsere Auswahl nicht erschöpfend. In jüngster Zeit haben sich nicht nur in Deutschland vielfältige neue Bewegungen und freie Gemeinden gebildet, die zum Teil lose im so genannten D-Netz zusammengeschlossen sind. Dabei handelt es sich um die so genannte Neocharismatische Bewegung (auch "Dritte Welle" genannt), wo es sicher viel Spannendes zu entdecken gäbe. Dennoch haben wir uns für unsere  Serie entschieden, nur etablierte Freikirchen vorzustellen, die wir in einen Kontext einordnen und deren Entstehungsgeschichte wir recherchieren können.  

Reporter von evangelisch.de besuchen in den kommenden Wochen Gottesdienste von neun freikirchlichen Gemeinden in Deutschland und berichten, wie die Atmosphäre ist, wie gepredigt und gesungen wird, wie man das Abendmahl feiert. Dazu erstellen wir jeweils einen Hintergrundartikel mit Informationen über die jeweilige Freikirche, wie sie entstanden ist, welche Besonderheiten es in Lehre und Frömmigkeit gibt, wie groß sie in Deutschland und der Welt ist. Dabei stellen wir Fragen zum Beispiel zum Bibelverständnis, zur Taufe, zum Abendmahl, zur Rolle der Frauen und zur Akzeptanz von nicht-heterosexuell orientierten Menschen.

Auch wenn dabei Differenzen und Streitpunkte zu den evangelischen Landeskirchen zum Vorschein kommen mögen: Von der Gesamtausrichtung her soll unsere Serie offen sein und die Vielfalt wertschätzen, in der evangelische Christen in Deutschland ihren Glauben leben. "Das sind alles unsere Schwestern und Brüder", sagt Pastor Bernd Densky, freikirchlicher Referent bei der ACK. Wenn am Ende deutlich wird: Wir sind zwar verschieden, aber eins in Christus, dann haben wir mit der Freikirchenserie unser Anliegen erreicht.