In Ihrem Buch "Havarie" schildern Sie das fiktionalisierte Aufeinandertreffen eines Kreuzfahrtschiffes und eines Flüchtlingsbootes im Mittelmeer. Woher hatten Sie die Idee für den Roman?
Wie haben Sie weiter recherchiert?
Kröger: Von da aus verlief die Recherche im Schneeballsystem: über Belfast in Nordirland, Cartagena in Spanien, kreuz und quer über das Mittelmeer bis nach Algerien. Was zunächst so klar schien - wir hier oben, die dort unten - wurde immer komplexer, je mehr es zu individuellen Biografien führte.
Welche Interessenskonflikte ergeben sich zwischen Kreuzfahrtpassagieren, Reedereien, Flüchtlingen, Schleppern, Aktivisten und Einsatzkräften?
Kröger: In meinem Buch trägt jede einzelne Figur Brüche und Spuren von Gewalt, Krieg und Vertreibung, manchmal über Generationen hinweg, als Gepäck durchs Leben. Das ermöglicht, Verbindungen zwischen den Personen zu ziehen - und diese Verbindungen laufen auf Augenhöhe.
Die Akteure entziehen sich also ihren Zuschreibungen: Kreuzfahrtpassagiere sind keine reichen Ignoranten. Durch die Besatzung eines Frachtschiffs kann eine weit entfernte Front verlaufen. (Das Wort "Schlepper" benutze ich niemals!) Auch die Flüchtlinge sind keine homogene Einheit: Flucht hat viele Gesichter diesseits und jenseits der Grenzen. Und über all dem steht für mich die Frage: In welchen Momenten ist für die Personen in ihrer jeweiligen Situation ein autonomes Handeln möglich?
"Ich habe meine Sinne weit geöffnet und versucht zu begreifen"
Die Lage im Mittelmeer ist auch in der Realität dramatisch. Wieso haben Sie sich für einen fiktionalen Roman entschieden?
Kröger: Die Realität ist viel dramatischer, gewalttätiger, unfassbarer als die Fiktion. Ich habe mich entschieden, das reale Ereignis des Aufeinandertreffens zum Anlass zu nehmen, um die Zeit anzuhalten, quasi ein 3-D-Modell dieser Situation zu erstellen, das ich von allen Seiten betrachten kann. In diesem modellhaften Raum kann ich nun in die Rolle jedes Protagonisten schlüpfen und versuchen, ihn oder sie aus ihrer Biografie heraus denken und handeln zu lassen. Ich benutze also die Fiktion wie ein Brennglas, ich fülle die Bilder mit Emotionen, Erinnerungen und gelebtem Leben, damit sie sich nicht verflüchtigen können, weil wir sie nicht ertragen.
Was haben Sie vor Ort erlebt, was sie nicht schon aus Fernsehberichten und Titelseiten kannten?
Merle Kröger: Ich habe mir die Zeit genommen, mit den Menschen vor Ort zu sprechen, ihre Vergangenheit, ihre Gegenwart, ihre Wünsche und Hoffnungen auf eine mögliche Zukunft zu verstehen. Ich habe meine Sinne weit geöffnet und hingeschaut, hingehört, zu begreifen versucht. Ich habe nichts erlebt, dass nicht jeder andere auch erleben könnte. Wem die vorformulierten Bilder aus den Medien nicht genügen, kann das auch tun und muss dafür nicht mal bis zum Mittelmeer fahren.
"Die meisten Europäer wollen sich eben nicht hinter Zäunen und Mauern verschanzen"
Merle Kröger: Ja und nein. Ich glaube, die Leute sind übersättigt. Aber umso stärker wird der Wunsch nach einer Geschichte, einem Bild, das uns mit einschließt und nicht als Zuschauer außen vor lässt. Ich habe mich sehr darüber gefreut, dass mein Buch diese Lücke bei einigen Menschen zu füllen vermag. Die meisten Europäer und Eurpäerinnen wollen sich eben nicht hinter Zäunen und Mauern verschanzen. Sie suchen nach Anknüpfungspunkten, nach Möglichkeiten, hinter die immer gleichen Bilder zu sehen. Mein Buch öffnet im besten Fall diesen Raum, in dem man sich ohne Vorbehalte begegnen kann.
"Mein Buch soll zum Handeln einladen"
Haben Sie als Künstlerin in der Flüchtlingskrise eine besondere gesellschaftliche Verantwortung?
Merle Kröger: Ich finde es unanagenehm und unnötig, wenn Künstler und Künstlerinnen in eine Stellvertreterrolle gedrängt werden. Niemand braucht mich oder mein Buch, um mit einem Flüchtling ins Gespräch zu kommen - sie sind ja schon lange hier, fähig und willens, für sich selbst zu sprechen. Niemand braucht mich, um die Brutalität der Globalisierungseffekte zu erkennen, die sich im Zeitmanagement auf einem Containerschiff oder in den Arbeitsbedingungen auf einem Kreuzfahrtschiff spiegeln.
Meine Intention ist, eine Situation zu schaffen zwischen meiner Geschichte und dem Leser oder der Leserin, die keine geschlossene ist. Die auch in der bewussten Verknappung der Sprache "offene Enden" erzeugt, die zum Denken einladen, zum Perspektivwechsel und vielleicht sogar zum Handeln.