Die meisten Demenzdramen schildern, wie ein Mensch langsam verschwindet. Erst sind es nur Kleinigkeiten, die er vergisst, doch dann stellt sich mehr und mehr heraus, wie wenig er (oder sie) den Herausforderungen des Alltags noch gewachsen ist. Vor allem jedoch beginnt seine Vergangenheit zu verblassen, und es zeigt sich: Ein Mensch ist vor allem das, was er war. Auf diese Erkenntnis läuft auch Gernot Krääs Geschichte hinaus, aber er erzählt sie mit einem ganz anderem Ansatz: Der verwitwete Alexander ist ein charismatischer, gut aussehender und vermögender Mann, der sein Leben offenkundig in vollen Zügen genießt; seine schöne Freundin Belinda (Natalia Belitski) könnte ohne weiteres seine Enkelin sein.
Brüche zwischen zwei Welten
Was immer auch konkret Krää (Buch und Regie) dazu bewogen hat, diese Rolle Robert Atzorn zu geben: Die Wahl war vortrefflich. Mitunter hat es ja den Anschein, als wolle sich Atzorn immer noch von den Sympathieträgern absetzen, die ihn einst bekannt gemacht haben ("Oh Gott, Herr Pfarrer", "Unser Lehrer Dr. Specht"). Seine Figuren zeichnen sich oft durch eine gewisse Kantigkeit aus; ihre Gefühle gibt er nur in Nuancen preis. Das ist die perfekte Voraussetzung für "Mein vergessenes Leben": Alexander ist kein Typ, der Mitleid will, und dafür gibt es zunächst auch keinerlei Anlass; selbst wenn Irritationen wie etwa seine Geräuschempfindlichkeit nahe legen, dass irgendwas nicht stimmt. Erst nach und nach zeigt sich, dass Alexanders großspuriges weltmännisches Auftreten bloß Fassade ist, denn tatsächlich lebt er zwei Leben; aber das zweite ist nur eine Behauptung.
Gerade in den Brüchen zwischen diesen beiden Welten zahlt sich Atzorns sparsames Spiel aus: Natürlich will Alexander nicht wahrhaben, was mit ihm passiert, weshalb anfangs Andeutungen genügen, um seine kurzzeitige Verwirrung zu zeigen. Daher zieht er verständlicherweise die Rolle des stabilen Weltmanns vor, der seiner Umgebung Vorträge hält. Das unterscheidet "Mein vergessenes Leben" von vergleichbaren Dramen wie "Die Auslöschung" (mit Klaus Maria Brandauer), "Sein gutes Recht" (Matthias Habich) oder "Stiller Abschied" (Christiane Hörbiger): Erschüttert stellt Alexander schließlich fest, dass sein Ich ein Anderer ist, und dieser Andere ist ein ziemlich unsympathischer Typ, der seine Gattin permanent betrogen hat; unter anderem mit der Frau seines Freundes und Geschäftspartners. Ähnlich differenziert schildert Krää Alexanders Kinder (Katharina Marie Schubert, Shenja Lacher), die ihm aus seiner Sicht dauernd Steine in den Weg legen, in Wirklichkeit aber verzweifeln, weil ihr Vater die schon vor geraumer Zeit gestellte Demenzdiagnose konsequent verdrängt.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Krääs erste Regiearbeit war vor vielen Jahren der sehenswerte Kinderkrimi "Die Distel" (1991). Seither hat er nur eine Handvoll Filme inszeniert, darunter "Paulas Geheimnis" (2006), ein ebenfalls vielfach ausgezeichneter Kinderkrimi. Für "Mein vergessenes Leben" wählt er passend zum Thema eine lakonische Erzählweise, deren Reiz nicht zuletzt in den Auslassungen liegt. Viele Momente sind mit großer Zärtlichkeit inszeniert; auch deshalb kann es sich Atzorn leisten, Alexanders Innenleben nuanciert zu spielen. Als er mit Belinda in den Alpen ist und sie vom Ausblick schwärmt, der schön wie ein Traum sei, nimmt sie Alexander die Worte aus dem Mund; aber sein Blick gilt nicht dem Panorama, sondern ihr. Natalia Belitski hat zuletzt schon in der Komödie "Vorsicht vor Leuten" einem von Charly Hübner gespielten braven Beamten ganz vortrefflich den Kopf verdreht.
Krää hat seinem Film den Arbeitstitel "Der Goldfisch" gegeben. Das bezieht sich auf Fridolin, den Fisch von Alexanders Enkel Leon, mit dessen Hilfe sich der Junge die Krankheit seines Opa erklärt: weil sich Goldfische nur merken können, was in den letzten sechzig Sekunden passiert ist.