Jahrzehnte lang war dieser Teil der deutschen Geschichte tabu. Die Flucht und Vertreibung von rund 12 Millionen Deutschen aus Ostpreußen, dem Sudetenland und anderen ehemaligen deutschen Ostgebieten wurde zwar immer wieder mal in Dokumentationen aufgegriffen, doch als Grundlage für einen Spielfilm kam das Thema nicht in Frage: Zu groß war die Furcht, gerade ausländische Beobachter könnten es als Revanchismus bewerten, wenn eine hiesige Produktion die Deutschen als Opfer des Krieges darstellte.
Das ZDF hat den Bann 2006 gebrochen: Damals hat das "Zweite" den aufwändig gestalteten Film "Dresden" gezeigt und somit ein einschneidendes Kriegsereignis erstmals aus deutscher Opferperspektive erzählt. Selbst wenn die zusätzliche Emotionalisierung der Historie durch eine Romanze Geschmackssache war: Die sorgfältige, historisch akkurate Bearbeitung durch die renommierte Produktionsfirma teamWorx (heute UFA Fiction) ließ revanchistische Verdachtsmomente gar nicht erst aufkommen. 12 Millionen Zuschauer bescherten dem ZDF überdies eine Traumquote.
Der 2007 erstmals ausgestrahlte ARD-Zweiteiler "Die Flucht", den 3sat heute wiederholt, ist gleichfalls über jeden Verdacht erhaben. Auch hier wird Geschichte konsequent aus der Sicht jener erzählt, die sie erdulden mussten, doch ein eventueller Vorwurf historischer Einseitigkeit wird im Keim erstickt. Zwar werden die Soldaten der Roten Armee auf einen Haufen randalierender Vergewaltiger reduziert, aber die gezeigten Verbrechen der deutschen Wehrmacht sind viel schlimmer. Unter anderem knallen sie eine Gruppe wehrloser Kriegsgefangener und Zwangsarbeiter ab, die sich vor den anrückenden russischen Soldaten in Sicherheit bringen will. Und ein Offizier sitzt noch über drei jugendliche Deserteure zu Gesicht, als der Krieg aus deutscher Sicht nicht nur längst verloren, sondern auch sein offizielles Ende absehbar ist.
Kritik könnte allenfalls an der Wahl der Hauptfigur laut werden: Muss es denn unbedingt eine ostpreußische Adelige sein, die im narrativen wie emotionalen Zentrum der Handlung steht? Dabei liegt genau darin einer der dramaturgischen Reize des Films: weil Lena Gräfin von Mahlenberg (Maria Furtwängler), salopp formuliert, vom Platz an der Sonne nach ganz unten durchgereicht wird. Wie viele Andere steht sie am Ende mit völlig leeren Händen da, doch neben Hab und Gut hat sie auch ihren Status verloren. Zu Recht spricht Autorin Gabriela Sperl von einer "dramatischen Fallhöhe vielgestaltigster Ausformung": Das einzige, was Lena von Mahlenberg neben dem nackten Leben bleibt, ist ihre Schuld. Keine persönliche Schuld vielleicht, aber zumindest doch die Verantwortung ihrer Klasse, schließlich verkörperte der Adel nach Sperls Lesart eine Elite, die sich mit Ausnahme der Attentäter vom 20. Juli 1944 mit den Nationalsozialisten arrangierte, wenn nicht gar kooperierte. Es ist kein Zufall, dass der Major, der gegen Ende die drei Jungs erschießen lässt, ebenfalls dem ostpreußischen Adel angehört. Seine Erklärung, stets nach geltendem Recht gehandelt zu haben, klingt wie eine Vorwegnahme der Verteidigungsreden vor dem Nürnberger Kriegsverbrecher-Tribunal.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
In erster Linie aber ist "Die Flucht" ein neun Millionen Euro teures, fast dokumentarisches Werk über einen Exodus unter lebensgefährlichen Bedingungen. Kai Wessel, der schon mit seiner Verfilmung der Klemperer-Tagebücher deutsche Geschichte nachdrücklich zum Leben erweckt hat, verzichtete auf jede Computerbearbeitung. Anders als im Hollywood-Kino kämpfen sich die Komparsen in seinem Film tatsächlich bei minus 18 Grad durch Eis und Schnee (gedreht wurde in Litauen). Entsprechend authentisch wirken die Bilder des langen Trecks, dessen einziger Fluchtweg im Winter 1944/45 über das zugefrorene Haff führt.
Die Vorgeschichte beginnt allerdings im Sommer 1944, als sich die Menschen in Verleugnung aller Realitäten in trügerischer Sicherheit wähnen. Die russischen Granaten sind fast schon in Hörweite, da feiern die Adelsfamilien noch die bevorstehende Hochzeit ihrer Sprösslinge. Als die Gefahr immer offensichtlicher wird, versucht die SS, jeden Gedanken an Flucht im Keim zu ersticken: Ostpreußen soll eine Festung gegen die Russen sein. Wer trotzdem flieht, muss damit rechnen, zur Abschreckung der Bevölkerung gehenkt zu werden. Eine Evakuierung kommt nicht in Frage.
Neben der meisterhaften Inszenierung Wessels und der farbentsättigten Bildgestaltung durch den kongenialen Holly Fink ("Dresden") imponiert der Zweiteiler nicht zuletzt durch die treffend besetzte Prominenz vor der Kamera. Die elegante Maria Furtwängler ist ohnehin die perfekte Wahl für die Aristokratin. Von enormer Präsenz ist auch Angela Winkler als Mutter Sophie von Gernstorff.