Im Europa-Park sind die Hotels an diesem Wochenende restlos ausgebucht. Viele der Besucher zieht es auf dem riesigen Gelände zu eleganten Meisterwerken deutscher Ingenieurskunst wie dem "Silver Star", wo sie in Sekunden in den badischen Himmel katapultiert werden. Über 120 Personen zieht es jedoch auch in das Hotel Santa Isabel. Sie tragen Muscheln an ihren Rucksäcken. Es sind Teilnehmer der Pilgerveranstaltung "Muschel Europas".
Seit zehn Jahren bietet die Badische St. Jakobusgesellschaft in Zusammenarbeit mit der "Kirche im Europa-Park" diese Tour an, die Pilger von Ettenheim zum 4-Sterne-Hotel Santa Isabel im Europa-Park führt.
Unter den Pilgern sind auch Margot und Erich Baierl. Das Ehepaar beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit dem Jakobsweg. Sie staunen: Auch vor der Tür des portugiesisch anmutenden Klosterhotels finden sie die berühmte Muschel als Erkennungszeichen im Boden. Während draußen die Parkbahn vorbeirauscht, können sie drinnen still durch einen Kreuzgang wandeln. In einem stilechten Refektorium hängen Bilder von Heiligen und Päpsten. Aus der Jakobus-Kapelle in der Hotellobby riecht es nach Weihrauch. In einem Freizeitpark wie dem Europa-Park überrascht das.
Dass es hier ein solches Themenhotel gibt, hat viel mit der Unternehmerfamilie Mack zu tun, die sich zu ihren katholischen Wurzeln bekennt. Am Eingang zur Jakobus-Kapelle befindet sich eine Votivtafel, die Liesel Mack gewidmet ist. Ihre Religiosität und soziales Engagement prägte die beiden Söhne Jürgen und Roland. Es ist kein Zufall, dass sich sozial engagierte Künstler aus der Musik-Branche hier besonders wohl fühlen, solche wie Siegfried Fietz. Der evangelische Liedermacher bereichert an diesem Tag die Jakobs-Pilger im Hotel Santa Isabel mit seiner berühmt gewordenen Vertonung des Dietrich Bonhoeffer Textes "Von guten Mächten wunderbar geborgen."
Lange vor dem Jakobsweg-Boom durch Hape Kerkelings Buch "Ich bin dann mal weg" erkannte die Unternehmerfamilie Mack: Immer mehr Menschen suchen in ihrer Freizeit auch nach spirituellen Erlebnissen. Warum also, fragte sie sich, nicht auch hier? So entstand das Projekt "Kirche im Europa-Park". Andreas Wilhelm, Diakon und Pastoralreferent der Erzdiözese Freiburg, und Martin Lampeitl, Gemeindediakon der Evangelischen Landeskirche Baden, gestalten das ökumenische Angebot. Das Kloster-Hotel Santa Isabel ist nur eine Station auf dem "Spurenweg", der sich durch den Park zieht.
Der Europa-Park ist heute nicht mehr nur für seine bizarren Achterbahnschlaufen bekannt, die aussehen wie ein Konstrukt aus Fritz Lang’s Stummfilmklassiker "Metropolis", sondern auch als beliebtes Ausflugsziel für kirchliche Gruppen. Martin Lampeitl sagt: "Die Anfragen zu Gruppenführungen haben in den letzten Jahren stark zugenommen." Manche suchen hier ihr Seelenheil, spirituelle Ruhe oder schlicht eine Auszeit aus dem Alltag.
Andreas Wilhelm begleitet am späten Nachmittag eine Ministranten-Gruppe durch den Park. Nach einem Stärkungsgetränk im "Café Benedetto" führt er sie erst zum "Mack"-Brunnen, dessen schwere Kugel nur von einem dünnen Wasserfilm bewegt wird. Weiter geht’s zum russischen Themenbereich, wo sich in der Elz die goldenen Kuppeln der orthodoxen Kirche spiegeln, dann zur Marienkapelle, die sich hinter einem Torbogen mit dunkelroten Kletterrosen versteckt.
Über eine Holzbrücke gelangt die Gruppe in den skandinavischen Themenbereich. Dort befindet sich eine besondere Wegmarke auf dem "Spurenweg": eine norwegische Stabkirche. Die 1991 erbaute Holzkirche ist umgeben von einer zerklüfteten Fjord-Landschaft und einem Fluss, auf dem sich Touristen auf schwarzen Gummireifen jauchzend treiben lassen. Dicht an der Kirche vorbei rauscht die Parkbahn. Die Kirche mit den senkrecht gestellten Holzmasten und den Drachenköpfe an den Giebeln ist nicht nur Blickfang, sondern auch ein Ort der Stille inmitten des Menschenstroms. Besucher können hier Andachten mitfeiern, und unzählige Paare aus aller Welt haben sich in der norwegischen Stabkirche schon das Ja-Wort gegeben.
Andreas Wilhelm trifft an der Stabkirche auf Ernst Heller, der hier auf ein Brautpaar wartet. Der Schweizer, der viele Jahre als katholischer Zirkus-Pfarrer gearbeitet hat, ist immer noch gern hier. Er hat das Projekt "Kirche im Europa-Park" mit angestoßen. Begeistert sagt er: "Die Menschen finden in dieser wunderbaren Umgebung zueinander. Das ist für mich Kirche: mitten unter dem Volk, mitten in der Welt und nicht daneben stehend." Das zuhörende Ohr des 67-Jährigen ist hier noch immer gefragt, auch bei der Parkfamilie Mack, zu der er seit den achtziger Jahren einen engen Draht hat. Auch die Mitarbeiter des Parks suchen ihn häufig auf. Ernst Heller kennt die Kehrseiten dieser Vergnügungsmaschine. Parkmitarbeiter, die an den Rezeptionen oder an den Bahnen stets auf Knopfdruck gut gelaunt sein müssen, ermüden manchmal seelisch, erzählt er. Gespräche, die er oft in der Stabkirche führt, drehen sich häufig um Todesfälle, aber auch um Arbeitsverletzungen und Beziehungsprobleme.
Ernst Heller schätzt es, wenn im Park am Abend Ruhe einkehrt. Zur blauen Stunde lichten sich die großen Plätze, auf denen sich Stunden zuvor noch tausende Vergnügungswillige und "Muschel"-Pilger drängten. Parkchef Roland Mack holt Ernst Heller am Hotel Colosseo mit einem kleinen Elektrowagen ab. Er möchte mit ihm noch eine letzte Runde im Park drehen. Der Festbetrieb schläft schon, die Achterbahnen stehen reglos.
Zum Abbremsen gehen die beiden alten Freude in die "Mille-Miglia-Bar" im fünften Stock des Hotel Colosseo. Wer dort aus den Panorama-Fenstern sieht, blickt auf die Rheinebene, Frankreich und die Schweiz sind nicht weit weg. In einer Zeit, als noch keiner an den Wegfall von Grenzen dachte, ersannen die Macks einst auf einem Bierdeckel das Konzept des europäischen Vergnügungsparks. Am 12. Juli 1975 eröffneten sie dann den Europapark Rust. Über ein Vierteljahrhundert nach dem Wegfall des Eisernen Vorhangs ist im Süden Deutschlands tatsächlich ein Europa in Miniatur entstanden, in dem sich Menschen unterschiedlicher Länder, Kulturen und Mentalitäten grenzübergreifend begegnen können. Europa ist an diesem Ort das, was sich Papst Franziskus 2014 in seiner Straßburger Rede erwünscht hat: Ein "Vorbild-Kontinent" und "Sehnsuchts-Ort der Welt". Am 12. Juli 2015 übrigens feiern Landesbischof a.D. Ulrich Fischer und die Seelsorger des Europaparks zum Jubiläum mit allen Gästen einen ökumenischen Gottesdienst.