Ein bisschen enttäuscht waren die meisten Besucher der Diskussion zum baden-württembergischen Bildungsplan am Ende. So enttäuscht, dass die meisten in "We shall overcome" mit einstimmten, das der Frankfurter Pfarrer Nulf Schade-James spontan aus dem Publikum anstimmte.
Knapp 450 Personen waren gekommen, um bei der Diskussion unter dem Titel "Wir wollen nicht erduldet werden! - Streit um LSBTTIQ in Baden-Württemberg" dabei zu sein. Das waren nicht genug, um die Kirchentagsresolution zu verabschieden, die Pfarrer Nils Christiansen und Diakonin Eva Burgdorf einbringen wollten, denn dafür braucht man mindestens 500 Kirchentagsbesucher. Der Petitionsentwurf forderte dazu auf, "die Gottesebenbildlichkeit aller LSBTIQ-Menschen klarzustellen" und "innerkirchlich ihre gleiche Rechtsstellung zu erwirken".
Das war aber nicht die einzige Quelle der Enttäuschung. Die Besucher kamen mehrheitlich aus Baden-Württemberg und machten immer wieder ihrem Unmut Luft über Oberkirchenrat Werner Baur, Leiter des Dezernats Kirche und Bildung der Evangelischen Landeskirche in Württemberg. Er saß zusammen mit Baden-Württembergs Kultusminister Andreas Stoch auf dem Podium, der politisch für den vieldiskutierten Bildungsplan verantwortlich ist, mit dem unter anderem die Akzeptanz sexueller Vielfalt im Schulunterricht des Landes als Thema gesetzt werden soll. Von Baur hatten sich die Besucher eine klare Position für Vielfalt und Respekt erwartet. Die kam aber erstmal von Andreas Stoch.
Stoch nutzte die Gelegenheit, in klaren Worten die Ziele des Bildungsplans nochmal zu erklären: "Wir wollen die Kinder und Jugendlichen nicht in ihrer Identität beeinflussen oder steuern." Das Ziel sei, sie zur Toleranz und Akzeptanz von menschlicher und kultureller Vielfalt zu befähigen, um an den Schulen eine Atmosphäre ohne Diskriminierung zu schaffen. "Die Vorwürfe, die Landesregierung plane eine Umerziehung oder pornografisiere den Erziehungsauftrag, weise ich an dieser Stelle nochmal ausdrücklich zurück", sagte Stoch. Es gehe um diskriminierungsfreie Schulen, in denen "angstfrei gelernt und gelehrt werden kann".
"Es muss darum gehen, dass ich jeden Menschen akzeptiere in seinem Sein, so wie er eben ist, als einen gleichwertigen und liebenswerten Menschen neben mir verstehe", sagte Andreas Stoch mit großer Überzeugung und bekam dafür Applaus von den 450 Zuhörerinnen und Zuhörern.
Damit positionierte sich der Politiker deutlich klarer als der Vertreter der Kirche. Markus Baur betonte zwar auch: "Jedes Kind braucht Eltern, die sagen: Ich stehe zu dir", und erinnerte mit Blick auf das Anfangsgedenken des Kirchentags daran: "Wir haben als Kirche auch Schuld auf uns geladen." Die Gespräche mit homosexuellen Pfarrerinnen und Pfarrern aus der Landeskirche, die sich nach der Petition gegen den Bildungsplan ergeben hätten, hätte es schon viel früher geben müssen, sagte Baur.
Er betonte aber auch, "dass wir uns schwer tun im Aushalten der unterschiedlichen Meinungen" im "Sturm der Entrüstungen und hoch unsachlicher Positionierungen". Eine Leitlinie der Kirchenleitung sei die Aufgabe, "dass wir da keinen Riss in unsere Kirche bekommen." Baur hielt die theologische Freiheit der einzelnen Pfarrerinnen und Pfarrer in ihren Aussagen und Predigten hoch: "Wenn es eine diskriminierende Aussage ist, dann müssen wir da natürlich sprechen", sagte Baur, aber es gebe bei theologischen Aussagen kein reglementierendes Eingreifen der Kirchenleitung.
Die Besucher in der Schwabenlandhalle in Fellbach waren damit mehrheitlich nicht zufrieden, sie hätten sich eine klarere Positionierung für die Rechte von Homosexuellen gewünscht. "Wenn man Ihnen zuhört, klingt alles nach Friede, Freude, Eierkuchen, aber es werden Hass, Diskriminierung und Verunsicherung erlebt", das war eines der beispielhaften Statements aus dem Publikum.
Lebensgeschichten als Beispiele
Einig waren sich die Podiumsgäste – neben Baur und Stoch auch der Psychologe Ulli Biechele, Annemarie Renftle aus dem Arbeitskreis Lesben der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und Loni Bonifert, die Leiterin einer Selbsthilfegruppe für die Eltern homosexueller Kinder – aber darin, dass in der Schule die Vielfalt von Lebensformen nicht nur im Biologieunterricht vorkommen dürfe. Loni Bonifert berichtete, dass homosexuelle Schülerinnen und Schüler über den Unterricht sagen: "Ich komme nicht vor mit meiner Lebensform." Annemarie Renftle forderte, Homosexualität müsse auch beiläufig in Geschichten in Schulbüchern behandelt werden, nicht nur als Sachinformation, denn "Schulbücher sind der heimliche Lehrplan". Oberkirchenrat Baur stieß ins gleiche Horn: "Wir brauchen Lebensgeschichten als Beispiele."
Als Beispiel stellte Moderatorin Adrienne Braun die Rechenaufgabe in den Raum: "Ein Transsexueller kauft im Asia-Shop 100 Gramm Reis. Rechne aus, was zehn Gramm kosten!" Sollen solche Aufgaben zugunsten der Vielfalt in Schulbüchern gestellt werden? Im Prinzip ja, antwortete Renftle, auch wenn man das nicht ins Lächerliche ziehen sollte. "Was fremd ist, macht Angst. Was selbstverständlich im Schulbuch vorkommt, ist nicht mehr fremd." Es gehe schließlich um Lebensformen, nicht um Sexualität. Allerdings müssten dann auch die Mathelehrer in die Lage versetzt werden, Rückfragen zu diesen Lebensformen zu beantworten.
Vielen zu wenig, anderen zu viel
Ob der baden-württembergische Bildungsplan das letztendlich so konkret vorsieht, beantwortete Stoch nicht. Er legte aber Wert auf die Feststellung, dass es keinen "weichgespülten Bildungsplan" gebe, denn das vorab diskutierte Papier, das die Petition gegen den Bildungsplan auslöste, sei ein internes Arbeitspapier gewesen. Außerdem seien viele Kritikpunkte aus der Petition ohnehin nie so geplant gewesen. "Was mich daran stört, ist, dass es jetzt Leute gibt, die da draußen rumziehen und sagen: Weil wir so heftig demonstriert haben, ist das jetzt alles weg. Das ist – mit Verlaub – Käse!" Und trotzdem wird es "vielen zu wenig sein, und anderen wird es viel zu viel sein, was da drin steht", sagte der Minister voraus.
Die einen also enttäuscht, dass Kirche und Politik zu schnell vorangehen. Die anderen enttäuscht, dass diese Schritte zu mehr Akzeptanz von Vielfalt nicht schnell genug gehen. Enttäuscht äußerte sich auch Jessica Diedrich vom Zentrum Regenbogen darüber, dass der Kirchentag die Diskussion um den Bildungsplan parallel zum Hauptvortrag "Menschenrechte weltweit verteidigen - Schutz und Rechte für Lesben und Schwule" mit der Menschenrechtlerin Alice Nkom und Salil Shetty von Amnesty International gelegt hatte. So waren eben nicht genug Menschen da, um die Kirchentagspetition zur Gleichbehandlung von LSBTIQ*-Menschen letztlich zu beschließen.