Seit 1948 steht es in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: Jeder Mensch muss das Recht haben, sich frei in seinem Land bewegen zu können – und: Er muss auch das Recht haben, es zu verlassen und wieder dorthin zurückzukehren. Realität ist das allerdings längst nicht überall auf der Welt. Auch nicht in der "Festung Europa", im Jahr 2015. Das konnte man einmal mehr auch auf dem Kirchentag erfahren, auf der Veranstaltung "Jeder hat das Recht, (s)ein Land zu verlassen". Es ging um das Recht auf Einreise – denn jede Ausreise ist ja auch eine Einreise in ein anderes Land.
Und dass sich Europa damit zurzeit schwer tut, davon wusste Dr. Nils Raymond Muižnieks, Menschenrechtskommissar des Europarats, eindrucksvoll zu berichten. Seit drei Jahren hat er dieses Amt und in dieser Zeit habe er "ein anderes Europa" gesehen, berichtet er. Und dann hagelt es Sätze wie "TRITON ist keine Antwort", "das Dublin-System ist gescheitert", "die Zerstörung von Schlepperbooten ist keine Lösung" und "das Mittelmeer ist doch nicht ein 'italienisches Meer'" aus seinem Mund. Worum es ihm geht, ist die gemeinsame Verantwortung der europäischen Staaten für das Thema Migration. Er fordert gemeinsame europäische Mindeststandards für den Umgang mit Flüchtlingen und eine vorausplanende Politik: "Die europäischen Staaten sollten endlich anfangen, die Flüchtlinge aus Syrien zu integrieren – sie werden nicht so bald zurückkehren."
"Jeder Mensch, der hier ist, hat ein Potenzial"
Dabei würde sich das ja sogar lohnen, fügt er noch hinzu. Schließlich würde die internationale Forschung übereinstimmend belegen, dass Migranten den jeweiligen Volkswirtschaften mehr Vorteile bringen, als sie durch Inanspruchnahme der Sozialsysteme kosten würden. Diese Überzeugung teilt er mit anderen Podiumsteilnehmern: Armin Laschet zum Beispiel, der stellvertretende Bundesvorsitzende der CDU ist sich sicher, dass sich eine Menge dringend benötigte Fachkräfte in Deutschland in Flüchtlingsunterkünften befinden: "Jeder Mensch, der hier ist, hat ein Potenzial. Man darf ihn nur nicht immer als Problem sehen." Und Dr. Steffen Angenendt von der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik berichtet von einer Studie der Weltbank, die belegt, dass Migranten weltweit dreimal soviel Geld in ihre Herkunftsländer überweisen, wie alle Entwicklungshilfeetats der Welt zusammengenommen ergeben.
Alassane Dicko von der Assoziation Malischer Abgeschobener geht in die gleiche Richtung, wenn er sagt: "Wir in Afrika sind keine Armen – wir sind verarmt, und zwar aufgrund von ungerechten Handelsbedingungen." Entwicklungshilfegelder würden ohnehin oft nicht dort ankommen, wo sie wirklich gebraucht würden. Er spielt damit nicht nur auf Korruption an, sondern berichtet auch von den Geldern aus dem europäischen Entwicklungshilfefonds, die in Bamako überwiegend für Sicherheitsmaßnahmen ausgegeben würden statt für Schulen, Strom und sauberes Wasser. Sicherheitsmaßnahmen wie biometrische Erkennung - die dazu dienen, Flüchtlinge von Europa fernzuhalten.
"Grenzübertritte sind in der Bibel positiv bewertet"
Ihnen allen geht es um eine neue Bewertung von Migration. Und mit der Forderung nach einem positiven Bild von Ausreise und Einwanderung können sie sich nicht zuletzt auf die Bibel beziehen. Das legt Margot Käßmann in einem mitreißenden theologischen Impuls dar. Sie beginnt bei Adam und Eva, die ihr Zuhause verlassen (müssen) und endet beim ersten großen Wanderer Paulus: "Grenzübertritte sind in der Bibel positiv bewertet, es geht um ein Wagnis, einen Neuanfang mit Gottes Hilfe" schließt sie daraus. "Nicht die Menschen sind das Problem, sondern die Verhältnisse, die sie dazu bringen, aufzubrechen" ruft sie unter tosendem Applaus in den Saal. Die Menschen, die zuwanderten, seien schutzbedürftig und wir hätten die Pflicht, ihnen Schutz zu geben. Und schließlich sei da noch das Gebot der Gastfreundschaft im Hebräer-Brief, mit der wir uns in Deutschland offenbar sehr schwer täten, vor allem dann, wenn die Gäste bleiben wollten, mehr sein wollten als "Gastarbeiter". Beim freien Fluss des Kapitals sei das ganz anders, da gäbe es kaum Grenzen. Käßmanns Credo hingegen: "Es kann keine globalisierte Welt des Kapitals geben, ohne Globalisierung der Menschen." Und: "Diese Freiheit zur Migration ist nötig, sonst verraten wir die christlichen Werte!"
Spannend wird es dann auf dem Podium, als die Vertreterinnen zweier Länder, in denen das Recht auf Einwanderung in der Verfassung verankert ist, von ihren Erfahrungen berichten: Jorge Enrique Jurado Mosquera ist Botschafter der Republik Ecuador und María Inés Pacecca kommt vom Unterstützungskomitee für Migranten und Flüchtlinge in Argentinien. In Ecuador, so berichtet Mosquera, sei nicht nur die Freizügigkeit als Grundrecht garantiert, sondern auch der Ausländerstatus aufgehoben. Und Pacecca kann Zweifel zerstreuen, dass es in Argentinien zu massenhaftem Missbrauch der Sozialsysteme durch Einwanderer komme: "Wir finden dafür keinen Nachweis, allenfalls die Medien schüren immer wieder diese Ressentiments durch Geschichten über einzelne Fälle."
Auch wenn es für Europa noch ein weiter Weg sein mag, bleibt nach dieser Veranstaltung die Idee vom Recht auf Einwanderung keine bloße Fantasie mehr. Sie erscheint vielmehr als Notwendigkeit, an deren Realisierung es sich lohnt, zu arbeiten. Oder, wie Margot Käßmann es formuliert: "Wir brauchen eine positive Utopie! Es gibt kein Zurück in eine abgeschottete Welt, es gibt nur ein Voran in eine bunte Welt!"