Utopie trifft auf Realität – Wunsch auf Wirklichkeit: Unterschiedlicher könnten zwei Veranstaltungen auf dem Deutschen Evangelischen Kirchentag kaum sein. Hier wird eine Idealvorstellung für das Zusammenleben von Christen und Muslimen entworfen, dort wird die Realität der deutschen Einwanderungsgesellschaft einem Faktencheck unterzogen.
Bei der Podienreihe "Frei und gleich an Würde und Rechten geboren" kommt Deutschland als Einwanderungsland nicht sehr ruhmreich davon. Als Mouctar Bah von dem Tod seines Freundes Oury Jalloh erzählt, stockt dem Publikum in der Carl-Benz-Arena der Atem. Es ist mucksmäuschenstill. Der Flüchtling aus Sierra Leone verbrannte im Januar 2005 auf bisher nicht offiziell aufgeklärte Weise in einer Polizeizelle in Dessau. Es waren sieben Jahre und zahlreiche Demonstrationen und privat in Auftrag gegebene Gutachten nötig, bis die Staatsanwaltschaft wegen Mordes ermittelte. Die verdächtigen Polizeibeamten, in deren Zelle Jalloh auf einer Matratze gefesselt verbrannte, wurden in einem vorherigen Verfahren bereits freigesprochen. Der junge Mann habe sich selbst angezündet, hieß es damals.
Erschreckendes Bild vom Heimatland
Erst vor wenigen Tagen hat der Antirassismus-Ausschuss der Vereinten Nationen die Bundesrepublik für rassistische Strukturen in staatlichen Institutionen noch immer ein Problem darstellen. Damit rassistische Taten von der Polizei besser erkannt und vorurteilsfrei aufgeklärt werden können, müssten die Strukturen reformiert werden, heißt es in der Empfehlung.
Zusammen mit der Erinnerung an die mutmaßlichen Misshandlungen von Flüchtlingen im vergangenen Jahr in Burbach ergibt sich für die viele Zuhörer ein erschreckendes Bild von ihrem Heimatland. "Auch wenn das Ausnahmefälle sind: Wir können doch nicht zulassen, dass Menschen, die hier bei uns Schutz suchen, Angst um ihr Leben haben müssen", sagt Thilo. Der 22-Jährige Ethnologie-Student ist auf der anderen Seite aber auch begeistert von dem Engagement in der Flüchtlingshilfe, das sich in den vergangenen Monaten in Deutschland entwickelt hat.
Dieser Punkt ist es auch, den die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung Aydan Özoguz (SPD) hervorhebt. Als vor etwa 20 Jahren schon mal ähnlich viele Asylanträge an die Bundesrepublik gestellt worden seien, habe es nicht annähern so eine Willkommenskultur gegeben, wie heute. Trotzdem gebe es noch zu viele unbewusste rassistische Mechanismen in den Köpfen der Menschen.
Arbeitssuchende mit fremdsprachigen Namen müssten sich beispielsweise 50 Prozent öfter bewerben, als Kandidaten mit deutsch klingendem Namen. "Wir vertrauen Menschen, die wir als andersartig empfinden, weniger als Menschen, die uns selbst ähnlich sind", erklärt Özoguz. Diese Denkweise sei auch in staatlichen Institutionen noch verbreitet. Es gelte allerdings, den eigenen unterschwelligen Rassismus zuzugeben und als Problem anzuerkennen. "Nur dann können wir eine gerechte Teilhabe aller ermöglichen", sagt die Migrationsbeauftragte.
Zuwanderung als Chance, nicht als Problem
Die britische Soziologin Bridget Anderson sieht die Ursache für die Ausgrenzung in der Konstruktion von gesellschaftlichen Gruppen. Einwandernde Menschen würden durch staatliche Migrationskontrolle und eine Abgrenzung zur jeweiligen Bevölkerung automatische eine pauschale Andersartigkeit zugesprochen. Zuwanderer dürften dabei aber nicht automatisch als Probleme wahrgenommen, sondern als Chance gesehen werden.
Auch bei dem Versuch, ein ideales Zusammenleben von Christen und Muslimen in der Stuttgarter Stiftskirche zu entwerfen, herrscht die Ansicht, dass die Grundlage für eine friedliche und gleichberechtigte Gemeinschaft bereits im Kopf des Einzelnen beginnt. Muslime dürften nicht verallgemeinernd mit "dem Islam" gleichgesetzt werden, fordert der Theologe Reinhold Bernhardt. Oft seien gesellschaftliche Probleme gar keine Frage der Religion, sondern dem Zusammentreffen verschiedener Kulturen geschuldet. Urteile würden oft schon vor der ersten realen Begegnung gefällt. Deshalb plädiere er für eine dialogorientiertere Theologie.
Nach Ansicht der Islamwissenschaftlerin Rifa’at Lenzin muss der Koran für ein ideales Zusammenleben von Christen und Muslimen immer wieder neu erschlossen werden. "Die Gesellschaft des 21. Jahrhunderts ist multiethisch, multikulturell und multireligiös", sagt die Schweizerin. In der Schrift gebe es Modelle, die nur im Offenbarungskontext verständlich seien. Der Koran äußere sich nur zur damaligen Zeit und müsse mit der aktuellen Situation ins Verhältnis gesetzt werden. Christen und Muslime hätten viele gemeinsame Verantwortungen, wie etwa die Erhaltung der Schöpfung. Niemand könne eine bestimmte Wahrheit für sich vereinnahmen, weil es verschiedene Spiegelungen der Wirklichkeit gebe. Je nach Kultur seien deshalb verschiedene Religionen entstanden.
Die Akustik in der Stiftskirche ist so schlecht, dass beide Referenten auf die Kanzel steigen, um besser um vom Publikum besser gehört werden zu können. Die Utopie scheint damit fast ein bisschen in der Realität angekommen zu sein: Eine Muslimin und ein Christ, beide auf gleicher Höhe, miteinander im Dialog, ohne dass einer von beiden seine Besonderheiten ablegen oder sich vor dem anderen rechtfertigen muss.