Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat dafür geworben, im digitalen Wandel trotz aller Skepsis zuerst Chancen zu sehen. Die rasanten Veränderungen könnten helfen, große Aufgaben wie die Energiewende oder den demografischen Wandel zu bewältigen, sagte Merkel am Freitag beim evangelischen Kirchentag in Stuttgart. Auch Verbesserungen im Gesundheitswesen seien möglich. Die Regierungschefin stellte sich beim Protestantentreffen der Diskussion mit Experten und Fragen der Kirchentagsbesucher, die Entwicklungen im Netz offenbar deutlich skeptischer sehen.
Der Münchner Physiker und Philosoph Harald Lesch warnte vor einem zu sorglosem Umgang mit dem Internet, vor allem mit der Preisgabe von Daten. "Wir machen uns keine wirklich großen Gedanken darüber, was mit unseren Daten passiert", sagte Lesch. In diesem Jahr würden mehr Daten gespeichert als in den letzten 30.000 Jahren zusammen, sagte er.
Kanzlerin diskutiert beim Kirchentag über digitalen Wandel
Zur rasanten Entwicklung der Technologie gab Lesch zu bedenken: "Kein Menschen weiß mehr genau, was da passiert." Die Digitalisierung beruhe nicht mehr auf einer Art von Physik, die man sich vorstellen kann. Daten würden teilweise im Tempo von einem Drittel der Lichtgeschwindigkeit von einem Ort zum anderen gebracht. Die Politik steht nach seiner Ansicht auf einem "abrutschendem Hang", weil sie nur auf Technologien reagieren, selbst aber nicht gestalten könne. Der Glaube des Silicon Valley, "für jedes Problem gibt es einen Algorhythmus", bezweifle er.
Die Kanzlerin widersprach. Die Politik sei selten in der Geschichte vor der Entwicklung gewesen. "Man hatte auch nicht die Straßenverkehrsordnung, bevor das Auto da war", sagte sie. Dann zog sie einen Vergleich zur Narkose, die Anfang des 19. Jahrhunderts umstritten gewesen sei. Es sei diskutiert worden "ob es in Ordnung ist, wenn der Mensch kurzzeitig seine Selbstbestimmung verliert", sagte Merkel: "Irgendwie sind wir damit auch fertig geworden, haben Regeln eingeführt."
Bei der Selbstbestimmung über Daten kamen die Kirchentagsteilnehmer auch schnell zum Thema NSA, das die Kanzlerin selbst ausgespart hatte. Der Vorwurf, der US-amerikanische Geheimdienst habe über den BND deutsche Unternehmen ausgespart, interessiert auch sie. Merkel verspricht erneut Aufklärung. Zudem solle bis zur Sommerpause entschieden werden, ob die Regierung die sogenannte Selektorenliste, über die die NSA Suchanfragen gestellt hat, veröffentlicht wird.
Merkel betonte auch, man müsse angesichts vieler Gefahren mit anderen Nachrichtendiensten zusammenarbeiten - und erntet dafür Applaus. Einen Meinungsunterschied mit den USA sieht sie: "Für uns ist die Balance zwischen Sicherheit und Freiheit mehr auf den individuellen Schutz ausgerichtet", sagt sie. Zwischen Netz-Optimisten und -Pessimisten vermittelt schließlich Petra Grimm, Leiterin des Instituts für Digitale Ethik in Stuttgart. Im Internet sieht sie die Chance zur Entwicklung eines neuen "Wir"-Gefühls. Auf Plattformen, auf der jeder Produkte und Leistungen bewerten könne, helfe man sich quasi untereinander. Das sei eine gute Entwicklung, solange die Privatsphäre nicht verloren gehe.
Auch für das Thema hat die einen Vorschlag: ein öffentlich-rechtliches Facebook. Es würde die gleichen Angebote haben wie das derzeit beliebte soziale Netzwerk. Gleichzeitig könnte es aber sicherstellen, dass die Daten nicht über ein anderes Land wie die USA an Dritte weitergegeben werden.