Foto: dpa/Patrick Seeger
Eine Stele auf dem Stuttgarter Karlsplatz erinnert an verfolgte Homosexuelle.
"Wir nennen ihre Namen und geben ihnen Würde zurück"
Ihre Lebensgeschichten machen sprachlos. Und deswegen müssen sie erzählt werden, die Geschichten von gleichgeschlechtlich Liebenden, die in der Nazizeit (Männer auch darüber hinaus) verfolgt wurden. Bei einem bewegenden Gedenken zu Beginn auf dem evangelischen Kirchentag in Stuttgart wurde mit dem Erzählen angefangen.

"Kein Kirchentag beginnt, ohne an die Opfer von Gewaltherrschaft zu erinnern", sagt Kirchentagspräsident Andreas Barner auf dem Stuttgarter Karlsplatz, in der Nähe der Stelle, wo das alte "Hotel Silber" steht. Ein Schreckensort für schwule Männer der älteren Generationen, denn hier war die Polizei untergebracht – während der Nazizeit die Gestapo, später die Kripo. Hier wurde verhört, wer sich eines "Vergehens" nach Paragraph 175 des deutschen Strafgesetzbuches "schuldig" gemacht oder auch nur verdächtigt wurde: sexuelle Handlungen unter Männern waren von 1871 bis 1994 in Deutschland verboten, die schlimmste Zeit war von 1935 bis 1969.

Video: Markus Bechtold, evangelisch.de

In Erinnerung an dieses Unrecht beginnt also hier, vor dem "Hotel Silber", der Deutsche Evangelische Kirchentag 2015, und Andreas Barner sagt ausdrücklich, dass das Gedenken mit dem Titel "Ausgegrenzt und totgeschwiegen" die erste Veranstaltung in der zeitlichen Abfolge dieses Kirchentages sei – im Vorfeld hatten sich einige beklagt, weil es noch vor den Eröffnungsgottesdiensten stattfindet. Die Klarstellung von Andreas Barner macht das Zeichen umso stärker: Mit der Erinnerung an "Menschen, die gleichgeschlechtlich liebten" und deswegen verfolgt wurden, will der Kirchentag also beginnen. Der Präsident wählt seine Worte mit Bedacht – einfach "Homosexuelle" zu sagen, wäre zu grob gewesen angesichts der bunten Community auf dem gut gefüllten Karlsplatz. Viele Lesben und Schwul sind gekommen, und in ihren Gesichtern ist zu sehen, dass sie mit den Worten und dem Zeichen einverstanden sind.

Unfassbare und traurige Geschichten

Das Gedenken sei unvollständig, sagt Andreas Barner, denn die Verfolgungsgeschichte sei noch lange nicht aufgearbeitet. Doch die beteiligten Initiativen aus Stuttgart haben damit bereits angefangen. Ralf Bogen, Vorstand der "Initiative Lern- und Gedenkort Hotel Silber", berichtet, wie das damals war: Ein Liebesbrief, eine zärtliche Geste, ein belauschtes Gespräch hätten den Nazis gereicht, um schwule Männer ins KZ zu bringen. Lesbische Frauen wurden zwangsverheiratet oder landeten ebenfalls im KZ, als "Asoziale". In der frühen Bundesrepublik ging die Verfolgung weiter, und dabei waren die Württemberger Behörden besonders aktiv: 1959, so informiert ein Kirchentagsplakat auf dem Karlsplatz, gab es 902 Verurteilungen nach Paragraph 175, doppelt so viele wie im Bundesdurchschnitt. Die Urteile haben Bestand. Ein Antrag sie aufzuheben wurde 2009 im Bundestag mehrheitlich abgelehnt, in der Debatte wird immer wieder auf die Gewaltenteilung verwiesen: Ein Parlament könne keine Urteile der Justiz aufheben. Immerhin: Die Mehrheit im Landtag von Baden-Württemberg (Grüne, SPD und FDP) beschloss im Oktober 2014, sich bei den betroffenen Männern zu entschuldigen. Der Kirchentag will noch mehr: "Wir nennen ihre Namen und geben ihnen Würde zurück", sagt Ralf Bogen.

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Fünf junge Menschen erzählen auf der Bühne die Lebensgeschichten von verfolgten Männern und Frauen. So wird Else vor den Zuhörenden lebendig, die ab 1939 "im Bordell wieder auf Vordermann gebracht werden" sollte. Karl, ein Kellner, der fünf Jahre in verschiedenen KZ zubrachte – um nach Ende der Nazizeit vor demselben Gericht in demselben Gebäude, dem "Hotel Silber", erneut verurteilt zu werden. Hildegard und Helene, die in Berlin-Friedrichshain eine Wohnung teilten und in Frieden ihre junge Liebe lebten, bis sie von einer Nachbarin wegen "abnormen Geschlechtsverkehrs" an den Blockwart verpfiffen wurden. Friedrich, den man als "Gefahr für die Jugend" betrachtete. Die jüdische Verkäuferin aus Hamburg, verheiratet mit einem "Arier", die im KZ ermordet wurde, nur weil sie öfter mal ins Frauencafé ging.

Von heute aus betrachtet sind sie schier unfassbar, diese Geschichten – und traurig. Menschen wurden denunziert, verfolgt, verurteilt und ermordet, nur weil sie einen anderen Menschen liebten. "Liebe kann keine Sünde sein", rezitieren die fünf Darsteller ein Gedicht. Applaus vom Karlsplatz, die Zuhörenden sind bewegt, diese Biografien gingen "tiefer als alles andere", sagt Kirchentagsteilnehmer Ernst Konrad aus Stuttgart. Auch Ursula Ripp-Hilt applaudiert anerkennend, sie ist Vorsitzende des Kirchentags-Landesausschusses in Württemberg und gekommen, "um Solidarität zu zeigen". Wenn sie um sich blickt, sieht sie einige Kirchenleute aus dem Ländle zwischen den vielen lesbischen und schwulen Paaren. So soll es sein.  

Die Ökumenische Arbeitsgruppe Homosexuelle und Kirche freut sich "über dieses besondere Engagement und die Zeichen", die der Kirchentag mit diesem Gedenken setzt. Franz Kaern-Biederstedt vom Bundesvorstand findet es wichtig, persönliche Schicksale öffentlich zu machen "um zu zeigen, was Ignoranz, Intoleranz, Verfolgung, Bestrafung bei konkreten Menschen anrichten, wie wertvolle Leben zerstört oder an der Entfaltung ihrer Potentiale gehindert werden". Es gehe – das müsse man sich klar machen – "um Strafen gegen ein völlig natürliches, menschliches Grundrecht". Einige Menschen, so Kaern-Biederstedt, "denken heute noch, dass Homosexuelle es verdient hätten, bestraft zu werden einfach für das, was sie sind". 

Von solchem Denken sind leider auch die Religionen nicht frei. Die Geschichte der verfolgten gleichgeschlechtlich Liebenden sei eine "Leidgeschichte, zu der auch die Kirchen beigetragen haben", sagt Andreas Barner. Sehr bewusst formuliert er so, hier, mitten in Stuttgart, wo im Streit um den grün-roten Bildungsplan auch Christen ihre Stimme erhoben, und zwar nicht um für die Akzeptanz verschiedener Lebensformen einzutreten. Ablehnung gleichgeschlechtlich liebender Menschen gebe es "auch unter Christen", sagt Pfarrerin Monika Renninger zum Schluss. Auch heute würden Menschen "unter Missachtung leiden" und "sich selbst verleugnen". Mitarbeitende in der Kirche sollten deshalb aufmerksam sein, fordert sie, Diskriminierung erkennen und einschreiten, wenn jemand gemobbt wird. Renninger fand klare Worte: "Unsere Kirche muss sich der Geschichte und der Mitschuld stellen." Mit diesem Gedenken zu Beginn ist dazu jedenfalls ein Anfang gemacht.

Video: Markus Bechtold, evangelisch.de