"Wo gesungen wird, da lass' dich ruhig nieder, ehemalige Feinde singen sich heute Liebeslieder" - das war ungefähr das Leitmotiv als 1956 elf Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg der erste Grand Prix d'Eurovision de la Chanson stattfand. Inzwischen heißt das Ganze Eurovision Song Contest und findet heuer - wie man hier vor Ort wohl sagen würde - in Wien statt. Es ist die 60. Auflage der Veranstaltung. Noch stärker als sonst transportiert das Ereignis seine frohe Botschaft an Menschenfreunde aller Art.
Song Contest als Öko-Event
40 Jahre nachdem Joy Fleming mit ihrem wunderbaren "Ein Lied kann ein Brücke sein" bei der Eurovision baden ging, hat der Österreichische Rundfunk (ORF) diesmal "Building Bridges" über die Veranstaltung geschrieben. Unter andrem baut er eben diese Brücken, indem für die beiden Halbfinale und das Finale alle Lieder und Bühnenmoderationen in internationale Gebärdensprache übersetzt und von Gehörlosen präsentiert lässt, in Deutschland live auf EinsPlus. Außerdem werden alle drei Sendungen untertitelt, die Lieder in der jeweiligen Originalsprache die Moderationen auf Deutsch. Für blinde und sehbehinderte Menschen werden die Shows live mit Bildbeschreibungen ergänzt, die wie üblich auf einer zweiten Tonspur übertragen und mit der Audio-Taste auf der Fernbedienung abgerufen werden können. Und waren Malmö und Kopenhagen schon in den vergangenen Jahren ökologisch sehr aufmerksam organisiert, wird der ESC 2015 ganz bewusst nach anerkannten Umweltstandards als zertifiziertes Öko-Event durchgeführt.
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Trotz der vielen Jahrestage in 2014 und 2015 ist Krieg in unseren Breiten inzwischen ein gefühltes Fremdwort, umso mehr macht es Angst, was in der Ukraine passiert. Auch weil das Land nach seiner Eurovisions-Premiere vor zwölf Jahren diesmal aus finanziellen Gründen zum ersten Mal nicht dabei ist. Währenddessen hat Österreich das musikalische Großereignis dem 26-jährigen Tom Neuwirth zu verdanken, der vor einem Jahr mit golddurchwirktem Abendkleid, langem Haar und Vollbart als Conchita Wurst die Europa-Meisterschaft der leichten Muse in Kopenhagen gewann. Als hätte dieses mutmaßliche Zeichen der Toleranz andere ermutigt, die von der Norm abweichen, gibt es von denen diesmal ein bisschen mehr als üblich.
Für Finnland singt die Gruppe "Pertti Kurikan Nimipäivät", drei der Band-Mitglieder haben das Down-Syndrom, der vierte Mann ist Autist. In seinem Heimatland ist das Quartett aufgrund eines Dokumentarfilms, einer regelmäßigen Radiosendung und einiger CD-Veröffentlichungen bekannt. Wer zwar für Inklusion, aber gegen Punkrock in der Eurovision ist, kann sich freuen, das Lied von PKN dauert nur 1 Minuten und 27 Sekunden, ist damit das kürzeste in der Eurovisions-Geschichte und außerdem im ersten Halbfinale gescheitert.
"Ich bin anders, und das ist gut so"
In der Gewichtsklasse "Wonneproppen" tritt die Serbin Bojana Stamenov an. Ihr Lied ist im muttersprachlichen Original, auf Deutsch mit alpenländischem Arrangement, auf Französisch und auf Spanisch - siehe YouTube - wunderbar und auf Englisch universell verständlich: "Beauty never lies, finally I can say, yes, I’m different and it’s okay." Umjubelt kam sie durch im ersten Halbfinale.
Die Polin Monika Kuszy?ska wird im zweiten Halbfinale mit ihrem Rollstuhl auf der Bühne stehen und singen. Als sie vor zwölf Jahren mit ihrer Rockgruppe "Varius Manx" zum Grand Prix wollte, da sang sie in der Vorentscheidung noch im Stehen. Doch fast auf den Tag genau vor neun Jahren hatte die Band einen Unfall, seitdem ist Monika Kuszy?ska von der Taille abwärts gelähmt. Bewegend sprach sie von ihrem langen Weg voller Zweifel und Verzweiflungen zurück auf die Bühne. Dort sitzt diesmal Kuba Raczy?ski am Klavier, er hat das Lied für seine Ehefrau komponiert, die den Text selbst geschrieben hat. Nicht das einzige Ehepaar in diesem Jahr.
Direkt vor den Polen singt die Gruppe "Maraaya", die Slowenen Aleš und Marjetka Vovk sind ebenfalls verheiratet. Wobei es ohnehin augenfällig ist, wie viele Duette in diesem Jahr antreten. Auch Estland, Litauen, Norwegen, San Marino, die Tschechische Republik, das Vereinigte Königreich - so heißen Großbritannien und Nord-Irland hier - und Weißrussland glauben, dass man zu zweit stärker ist als allein. Die sanmarinesische Lichterketten-Hymne der beiden 16-Jährigen Anita Simoncini und Michele Perniola stammt gut hörbar aus der Feder von Ralph Siegel, bei ihnen dreht sich genau wie bei der berührenden ungarischen Anti-Kriegs-Wiegenlied von der Ungarin Boggie eine Weltkugel auf der Videoleinwand hinter der Bühne.
Die ganze Welt auf der Bühne
Eine schöne Botschaft unserer einen Welt, neben vielen, unterschiedlich belaubten Bäumen ist der Globus das beliebteste Hintergrundbild in 2015. Übrigens auch bei der russischen Sängerin Polina Gagarina. Alerdings soll bei ihr die Schlusseinstellung wohl nur dokumentieren wie einschüchternd groß der Elf-Zeitzonen-Staat Russland ist. Die Armenier haben ihre Weltkarte etwa in der Mitte ihres Liedes auf den Bühnenboden projiziert. 100 Jahre nach dem Genozid zeigen sie, wie die Armenier in alle Winde verstreut wurden. Aus allen fünf Kontinenten stammen die Sängerinnen und Sänger der Gruppe "Genealogy". Deren Lied hieß zunächst "Don't Deny", die eurovisions-veranstaltende Europäische Rundfunkunion (EBU) wollte einen anderen Titel, der lautet jetzt: "Face the Shadow". Also nicht mehr "Leugnet es nicht", sondern stattdessen "Stellt euch den Schatten". Politik ist eben ganz schön diffizil und kompliziert.
Gesellschaftspolitisch sind die Rumänen unterwegs, ihre Gruppe "Voltaj" singt "De la cap?t". Dabei geht es um Kinder, die allein bei ihren Großeltern in Rumänien leben müssen, weil ihre Eltern ohne sie im Ausland arbeiten. Bei allen Pressekonferenzen stellten die etablierten Rockmusiker ihre Herzensangelegenheit vor. Die Band entstand schon in Nicolae Ceau?escus Zeiten, veröffentlichte ihr erstes Album aber erst im neuen Rumänien nach der Wende.
Wer bekommt die meisten Punkte?
Die Rumänen haben sich im ersten Halbfinale bereits qualifiziert, im zweiten am Donnerstagabend dürfen auch die Deutschen schon mal mit abstimmen, welche zehn Lieder aus dem Teilnehmerfeld von 17 im zweiten Halbfinale ins Finale am Samstag weiterkommen. Scheinbar ganz basisdemokratisch mit Televoting. Aber zusätzlich gibt es in jedem Land noch eine fünfköpfige Experten-Jury. Beide Ergebnisse werden zusammengezählt und dann gemittelt, so werden die insgesamt 58 Punkte verteilt.
Aus deutscher Sicht ist bei diesem Zweiklassenwahlrecht wahrscheinlich am bedenklichsten, dass zu den Experten Revolverheld-Mitglied Johannes Strate gehört. Der kann am Donnerstagabend Marta Jandová Punkte geben. Die Sängerin von Die Happy singt bei der Eurovision nämlich im Duett für Tschechien, aber hat vor fünf Jahren mit Revolverheld recht erfolgreich "Halt' dich an mir fest" gesungen. Egal, wie gut oder schlecht die Zusammenarbeit war, Johannes Strates Voting ist bestimmt nicht so unvoreingenommen wie es für einen Experten sein sollte.
Zuschauer dürfen total voreingenommen sein und bis zu 20 Mal abstimmen. Damit wird die EBU auch diesmal wieder ordentlich Geld verdienen. Und so spenden die Televoter auch jetzt im Mai, allerdings nicht für die Flüchtlinge vor Lampedusa, nicht für die Erdbebenopfer in Nepal und nicht für Bosnien-Herzegowina, das wie einige andere Länder aus finanziellen Gründen nicht mehr am Eurovision Song Contest teilnehmen kann und deshalb beim europäischen Familientreffen fehlt. Leider.