Für Contazi Come ist es kein Sonntag wie jeder andere. Heute darf er predigen, denn der hauptamtliche Pfarrer hat einen Auswärtstermin. Bekleidet mit schwarzem Anzug, weißem Hemd und schwarzer Krawatte steht der junge Mann auf der Kanzel der Église Evangélique, der evangelischen Kirche in Casablanca. Das Gotteshaus ist gut besucht, etwa 200 Frauen und Männer hören Come zu, der auf Französisch predigt.
Vor allem junge Leute kommen in der Evangelischen Kirche zusammen, zum Beten und Singen und anschließendem Plausch. Rund 200 sind es jeden Sonntag. Das war vor etwa 20 Jahren ganz anders: Zum Gottesdienst trafen sich nicht mehr als zehn Christen – allesamt Europäer. Nach dem Ende des Protektorats 1956 verließen viele Franzosen, Spanier und andere Europäer nach und nach Marokko. Sowohl die evangelischen als auch die katholischen Kirchengemeinden standen vor dem Aus. Heute ist es anders, die Zahl der Christen wächst wieder, vor allem durch Studierende und Arbeitsmigranten aus Afrika. "Der Großteil der Brüder und Schwestern kommt aus Zentral- und Westafrika", sagt Gemeindevorsitzender Marc de Rosay. Der 42-Jährige ist Franzose, lebt aus beruflichen Gründen seit acht Jahren in Marokko und engagiert sich seit 2013 in der "Familie", wie er seine Kirchengemeinde nennt.
Wie viele Christen in Marokko leben, ist nicht genau bekannt. Schätzungen belaufen sich auf etwa 30.000, wobei zwei Drittel Katholiken sein sollen. Die Zuwanderung von Christen, seien es Studierende, Arbeitsmigranten oder auch Flüchtlinge aus unterschiedlichen afrikanischen Ländern und Kulturkreisen, bringt es mit sich, dass Kirchengemeinen in Casablanca, Rabat und in anderen Städten multiethnisch, multikonfessionell und jünger werden. Europäer bildeten ursprünglich auch die Mehrheit der Église Evangélique in Casablanca, heute machen sie gerade mal zehn Prozent aus. Es sind vor allem junge Gläubige aus Kongo, Kamerun und der Elfenbeinküste, die dort zusammenkommen. Mehr als 60 Prozent der Kirchgänger sind unter 30 Jahre alt. "Wir haben es geschafft, alle in die Familie zu integrieren", sagt Gemeindevorsitzender de Rosay.
Die "verrückte Idee" ökumenischer christlicher Theologie
Contazi Come ist einer dieser afrikanischen Einwanderer. Der 30-Jährige stammt aus Burundi, kam zum Studieren nach Marokko und blieb, weil der Arbeitsmarkt im Königreich mehr Möglichkeiten bietet als sein Herkunftsland. Die evangelische Gemeinde in Casablanca ist ihm zum Familienersatz geworden. Er predigt, wenn der hauptamtliche Pfarrer der Gemeinde in einer der anderen evangelischen Kirchengemeinden Marokkos Gottesdienst hält. Sein Engagement für die Gemeinde möchte er auf profunderes theologisches Wissen aufbauen und hat sich daher für ein Stipendium am "Al Mowafaqa" beworben.
Al Mowafaqa – zu Deutsch: Vereinbarung - ist das ökumenische Institut für Theologie, das die Katholische Kirche und Protestantische Kirche in Marokko vor drei Jahren in Rabat gegründet haben. Es ist auf "eine verrückte Idee" zurückzuführen, so kommentiert es Samuel Amedro, Präsident der Evangelischen Kirche in Marokko und einer der Initiatoren. Er seine Mitstreiter wundern sich ein wenig darüber, dass sie ihre "Vision von einer Zusammenarbeit der evangelischen und katholischen Kirche" umsetzen konnten. In einem vom Islam geprägten Land wie Marokko eine fundierte Ausbildung in christlicher Theologie anzubieten wäre kaum möglich gewesen, wenn der marokkanische Staat es nicht gutgeheißen hätte, das wissen auch die Initiatoren.
"Entstanden ist Al Mowafaqa aus der Erkenntnis beider Kirchen, dass in Marokko zwar die Gemeinden wachsen, es ihnen aber an theologisch ausgebildetem Personal mangelt", erklärt Studienleiterin Pascale Bonef. Das Institut, das sich in einem ehemaligen Privathaus einer Apothekerfamilie befindet, beschreiben die Gründer als "einen Ort der Ausbildung, der Reflexion und des Experimentierens, um kulturelle, politische und religiöse Gegensätze zu überwinden und echte Begegnung von Menschen unterschiedlicher Kulturen und Religion zu fördern". Das Interesse an einem Studium an der "Al Mowafaqa" ist groß, im dritten Jahr nach der Gründung sind mehr 100 Studierende in einem der drei Schwerpunkte eingeschrieben.
Angeboten wird eine theologische Ausbildung, die in Kooperation mit dem Katholischen Institut in Paris und der Evangelischen Fakultät an der Universität in Straßburg erfolgt. Etwa 20 Professoren und Dozenten aus 17 europäischen und afrikanischen Ländern lehren in Blockseminaren; sodann gibt einen Schwerpunkt, der auf Kunst und Kultur in Marokko sowie arabische Sprache ausgerichtet ist; und seit Anfang dieses Jahres hat das Institut auch das Modul "interreligiöser und interkultureller Dialog" im Programm, das auf fünf Monate angelegt ist und mit einem Zertifikat absolviert wird.
Mehr Kompetenzen für die Arbeit vor Ort
Die theologische Ausbildung, die vor allem den Bedarf an Pastoralreferenten in Marokko, aber auch in den Herkunftsländern der Studierenden abdecken soll, geht auf die unterschiedlichen religiösen und kulturellen Hintergründe der Christen in Marokko und Afrika ein, berichtet Studienleiterin Bonef. Schon in der Herkunft der Studierenden, die sich für Theologie eingeschrieben haben, zeige sich diese Vielfalt. Unter den 15 Teilnehmern des Moduls "Interreligiöser und interkultureller Dialog" sind eine pensionierte Französin, die sich in ihrer Kirchengemeinde ehrenamtlich engagiert und festgestellt hat, dass sie sehr wenig über den Islam weiß; ein Theologiestudent aus Kanada und eine junge Lehrerin aus Köln, die sich hat beurlauben lassen, um sich in Vorbereitung auf ihre Promotion intensiver mit dem Islam zu beschäftigen, theoretisch und praktisch. Und mit dabei sind viele angehende Pastoren aus Schwarzafrika, die sich ob der angespannten religiösen Situationen in ihren Ländern mehr Kompetenzen für den interreligiösen Dialog vor Ort aneignen möchten.
"Für mich ist das Institut ein interreligiöses und interkulturelles Lernfeld par excellence", sagt die Lehrerin aus Köln, die namentlich nicht erwähnt werden möchte. Die wissenschaftliche Ausbildung sei "auf hohem Niveau" - auch dadurch, dass Dozenten aus unterschiedlichsten Ländern und Kontexten mit verschiedenen Backgrounds Einblicke erlaubten, "die so an einer normalen theologischen Fakultät nicht möglich sind". Gerade die Konfrontation mit unterschiedlichen Kulturen, Ansichten, Konfessionen innerhalb der Studierenden mache "Al Mowafaqa" zu einem ganz besonderen Institut.
Eine Ausbildung mitten in einem islamischen Kontext mit vielen Erfahrungsmöglichkeiten außerhalb des Instituts, das sei aus ihrer Sicht einmalig. " Ich war schon oft im Ausland, aber in so kurzer Zeit so viellernen und sich selbst weiterentwickeln können - und das auf hohem wissenschaftlichen Niveau, das kenne ich so nicht", sagt die junge Lehrerin aus Köln. Die Studiengebühren in Höhe von 700 Euro hat sie selbst bezahlt. Contazi Come hingegen, der sich für ein Theologiestudium beworben hat, hofft auf ein Stipendium. Das vierjährige Studium kostet um 9.000 Euro; finanziert werden die Stipendien unter anderem durch Spenden.