Inmitten der alten Klosteranlage, umgeben von mächtigen Linden, steht ein Brunnen. Darauf aufgesetzt, zwei Steinstatuen - Johannes der Täufer und Jesus, der von ihm getauft wird. Hier, um den Brunnen herum, im Herz des heutigen Evangelischen Seminars Blaubeuren, wird am Sonntag der ZDF-Fernsehgottesdienst stattfinden. Lehrer und Seminaristen gestalten ihn. Der Brunnen hat dazu den thematischen Anstoß gegeben.
Das Seminar wurde 1556 als reformierte Klosterschule gegründet und die Statuen auf dem Brunnen sind ebenso alt. Ihre ungewöhnliche Darstellung sorgt noch heute für Gesprächsstoff unter den Seminaristen: Johannes ist groß und erhaben abgebildet, er trägt einen fürstlichen Prophetenmantel. Dagegen wirkt der kniende Jesus klein, fast unterwürfig.
13 Uhr. Beim Mittagessen herrscht die Atmosphäre eines Landschulheims. Vom Klösterlichen merkt man kaum mehr etwas. Die schlichte Einrichtung ist vielleicht das letzte Relikt der monastischen Einfachheit. An langen Tischen und einfachen Bänken nehmen die 90 Schüler Platz, getrennt nach Klassenstufen. Hier wird viel diskutiert - Tagespolitik, aber auch Hintergründe. Die Schülerinnen und Schüler scheinen gut informiert - erstaunlich gut für diesen relativ abgeschiedenen Ort.
Die meisten Seminaristen kommen mit Beginn der neunten Klasse nach Blaubeuren. Thea und Anne, die den Gottesdienst mitgeplant haben, machen gerade ihr Abitur. "Wenn Altwerden bedeutet, seine Ideale abzuschleifen, dann will ich nicht alt werden", hatte Thea in der Vorbereitung gesagt. Dieser Satz machte unter den 15 Lehrerinnen und Lehrern des Kollegiums die Runde. Mancher hatte schlucken müssen. Einige waren in den 68er Jahren für ihre Vorstellungen auf die Straße gegangen und fragten sich nun: Welche Ideale hatte ich damals und was ist davon geblieben?
Keine Insel der Glückseligen
Nach dem Mittagessen blickt Thea auf diese Vorbereitungszeit zurück. "Wir haben gemerkt, dass viele Ältere das Leben schon etwas realistischer sehen." Klar, der Umgang mit Idealen wird sich verändern, da macht sich Thea keine Illusionen. "Und trotzdem hoffe ich, dass ich an meinen Idealen dran bleibe." Ein Ideal, das ist für Jonas zum Beispiel die Gerechtigkeit. Jonas, Judith und Anne haben ihre Standpunkte aufgeschrieben und werden sie im Gottesdienst vortragen. Die ZDF-Fernsehleute haben diese Texte nicht diktiert, erzählt das Vorbereitungsteam, sie haben nur beraten. "Wir sollten zum Beispiel keine Fremdworte benutzen", berichtet eine Schülerin und lacht: Man könne daraus ein wenig Eliteverständnis heraushören.
Dachwohnung. Schräge Decken, antike Eichenbalken. Durch das kleine Fenster sieht man den Klosterhof. Hier, im sogenannten "Forstamt", wohnt Andrea Morgenstern. Wie alle Lehrkräfte lebt die Religions- und Psychologielehrerin auf dem Internatsgelände. Vor zwei Jahren ist sie hier hergezogen. Davor hat sie unter anderem an der Universität Marburg gelehrt.
Sie sitzt an ihrem Esstisch und schüttelt vehement den Kopf. Nein, dass das Internat Blaubeuren eine Insel der Glückseligen sein soll, will sie nicht bestätigen. Natürlich besteht ein hoher schulischer Anspruch. "Die Texte, die ich früher an der Uni verwendet habe, kann ich hier in der Oberstufe behandeln", sagt sie und wirkt dabei ein wenig stolz auf ihre Schüler.
Dagegen spielt das Geld keine entscheidende Rolle. Wer Internatsschüler werden möchte, muss bloß die Aufnahmeprüfung - das "Landexamen" - bestehen. Dabei werden nicht nur schulische Leistungen getestet, sondern auch das soziale Verhalten. "Es kann schon einmal entscheidend sein, ob jemand beim Fußball fair spielt oder nicht", sagt Andrea Morgenstern. Wer das Examen besteht und sich nicht davon abschrecken lässt, dass Altgriechisch ein Pflichtfach ist, erhält ein Stipendium. Dann kann man ab 250 Euro im Monat im Internat leben und lernen.
Ein Ort, an dem man seine Ideale austesten kann
Der "Neubau" ist ein unansehnlicher 60er-Jahre Bau. Im Erdgeschoss befinden sich die Klassenzimmer. Im Stockwerk darüber wohnen die 12er. Auf einem Balkon wehen tibetische Gebetsfahnen, vor dem Gebäude sitzt ein Schüler auf einer Parkbank, tief über Bücher und Hefte gebeugt. Daneben ein Mann mittleren Alters - offensichtlich ein Lehrer. Die beiden unterhalten sich in einer Fremdsprache.
"Französischunterricht", sagt Andrea Morgenstern lachend und kommt noch einmal auf den Vorwurf der Weltabgeschiedenheit zu sprechen. Das geschützte Internatsleben sei wie eine Muttersprache, die man braucht, um eine Fremdsprache lernen zu können. Im Internat könne man seine Ideale austesten und gesellschaftliches Leben einüben, um später den Alltag zu meistern. Was Gerechtigkeit bedeutet, wird zum Beispiel dann konkret, wenn man sich mit fünfzig Schülern ein Fernsehgerät oder mit drei Klassenkameraden eine Dusche teilt. Andrea Morgenstern ist überzeugt: Es braucht solche Orte. Kirchengemeinden können sie bieten, glaubt die Pfarrerin, aber eben auch Internate.
Vom Neubau führt ein kleiner Fußweg zurück zum Johannesbrunnen. Aus vier mittelalterlichen Wasserspeiern fließt das Quellwasser des nahegelegenen Blautopfs. In wenigen Wochen werden die Abiturienten von hier aus in alle vier Himmelsrichtungen strömen - bei diesem Gedanken blickt Andrea Morgenstern etwas wehmütig drein. Man spürt, ihr sind die Schülerinnen und Schüler ans Herz gewachsen. Aber gleichzeitig weiß sie, dass die jungen Menschen ihren eigenen Weg finden müssen. Und außerdem: Jetzt ist erst einmal der ZDF-Gottesdienst dran und danach wird das Abitur gefeiert.