Man sieht sie kaum, die Kapelle. Sie ist gut versteckt in einem Flügel von Schloss Hartenfels, der früheren Fürstenresidenz in Torgau (Sachsen). Wäre da kein Kirchenportal, käme man nicht auf die Idee, dass sich hinter der Wand eine Kapelle befindet. Der evangelische Kurfürst Johann Friedrich "der Großmütige" von Sachsen (1503-1554) hat sie in den Jahren 1543-44 von Baumeister Nickel Gromann bauen lassen. "Mit dem Neubau einer Schlosskapelle nach einem neuen Konzept bekannten sich die Schlossherren klar erkennbar zur lutherischen Reformation", schreibt der ehemalige Torgauer Pfarrer und Superintendent Hans-Christoph Sens in seiner Broschüre "Evangelische Schlosskirche Torgau".
Mittlerweile wird die einstige Kapelle der Fürstenfamilie "Schlosskirche" genannt, seit 1930 nutzt die evangelische Kirchengemeinde Torgau sie für Gottesdienste. Ob es sich tatsächlich um den weltweit ersten evangelische Kirchenneubau handelt, stellt der heutige Torgauer evangelische Pfarrer Hans Christian Beer infrage: In einem Vortrag weist er auf die 1543 eingeweihte Kapelle in Schloss Neuburg (Bayern) hin. Es war wohl die Einweihung durch Martin Luther, die Torgau den Ruhm verschaffte, "erste" zu sein.
Am 5. Oktober 1544 hielt der Reformator zu diesem Anlass eine Predigt, die heute als Grundlage für das evangelische Gottesdienstverständnis gilt. "Meine lieben Freunde, wir wollen jetzt dieses neue Haus einsegnen und unserem Herrn Jesus Christus weihen", so begann der Reformator. "Das gebührt nicht mir allein, sondern ihr sollt auch zugleich mit angreifen, auf dass dieses neue Haus dahin gerichtet werde, dass nichts anderes darin geschehe, als dass unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort und wir umgekehrt mit ihm reden durch unser Gebet und Lobgesang." Aus dieser später so genannten "Torgauer Formel" ergibt sich, dass Gottesdienst für Luther aus Wort und Antwort, also aus Kommunikation besteht.
Zentral ist dabei die Predigt. "Alles andere kann unterlassen werden, nicht aber das gepredigte Wort", schreibt dazu der Praktische Theologe Michael Meyer-Blanck*. Im Gegensatz zu den Gottesdiensten des Mittelalters bedeute Luthers Programm "nicht weniger als eine Kulturrevolution", meint Meyer-Blanck: "Die Kommunikation in Sachen Religion vollzieht sich nicht mehr rituell, sondern diskursiv. Religion ist nicht mehr da, wo geheimnisvolle Rituale und Formeln ihren Platz haben, sondern da, wo man sich verständigt." Die Predigt, erklärt Meyer-Blanck weiter, ist für Luther "das gemeinsame Werk von Prediger und Gemeinde". Die Menschen im Gottesdienst deuten das Gehörte für sich und reagieren darauf. Selbst wenn sie nicht laut antworten, so nehmen sie doch eine innere Haltung ein, die Meyer-Blanck "Christusresonanz" nennt. Kirche als "Gemeinschaft der Gläubigen" war für Luther "etwas Lebendiges, etwas, das sich ereignet", so umschreibt es Pfarrer Hans Christian Beer. "Gott kehrt sozusagen in die Herzen ein und wohnt in den Menschen, die das Wort annehmen."
Wo ein solcher Gottesdienst stattfindet, war für Martin Luther nicht relevant. Die Torgauer Kapelle nannte er in seiner Kirchweihpredigt nur "dieses neue Haus" und sagte über Gottesdienstorte allgemein: "Kann es nicht unter einem Dach oder in einer Kirche geschehen, so geschehe es auf einem freien Platz unter dem Himmel, oder wo Raum dazu ist, aber doch so, dass es eine ordentliche, allgemeine, öffentliche Versammlung sei." Darin liegt ein Unterschied zur katholischen Messe: "Der Raum dient nicht dem Vollzug der Liturgie durch den Priester, er ist ein Versammlungsraum für die Hörerinnen und Hörer der Predigt und für die gemeinsame Feier des Abendmahls", hält Hans-Christoph Sens fest. "Er ist nicht mehr sakraler Raum, der aus sich heraus heilig ist." Dementsprechend gab es für die neue Kapelle in Torgau auch keine rituelle Weihehandlung durch einen Bischof.
Trotzdem musste Luther zugeben, dass er das "neue Haus" architektonisch gelungen fand – in einem Tischgespräch soll er gesagt haben: "Salomo hat nirgends so einen schönen Tempel gebaut, als Torgau hat." Die Schlosskapelle ist eine dreigeschossige Halle, 23 Meter lang, 11 Meter breit, 14 Meter hoch und von einem gotischen Netzgewölbe überspannt. Die zweistöckigen umlaufenden Emporen sind von den jeweiligen Etagen des Schlosses aus zugänglich, so dass die Kapelle für die Schlossbewohner praktisch erreichbar war. Hans Christoph Sens sieht das als Hinweis darauf, dass Gottesdienst für den evangelischen Kurfürsten zum Alltag dazugehörte. Und nicht zuletzt erwähnt Sens, dass es damals schon Stühle im Kirchenschiff gab, so dass alle Gottesdienstteilnehmer sitzen konnten – eine Neuerung gegenüber dem Mittelalter, als das einfache Volk während der Messe stehen musste.
Die Kanzel hängt in der Mitte einer Längsseite – symbolisch für die zentrale Bedeutung der Predigt im evangelischen Gottesdienst, auch wenn das keine ureigene Torgauer Idee war. Verziert ist die Kanzel mit drei biblischen Szenen, die drei Grundsätze der Reformation abbilden: links Jesu Gespräch mit der Ehebrecherin als Sinnbild für die Gnade ("sola gratia"), rechts Schlange und Kreuz als Zeichen für Tod und Errettung durch den Glauben ("sola fide"). Das Relief in der Mitte zeigt den zwölfjährigen Jesus im Tempel (Lukas 2,41ff), der mit den Gelehrten diskutiert und dem ein Mann – Martin Luther? – eine Bibel hinhält ("sola scriptura"). Für Hans-Christoph Sens ist klar: "Das Bild stellt an der Kanzel als dem Ort der Predigt die Person Jesu und die Heilige Schrift in den Mittelpunkt – wie Luther und die Reformation es programmatisch getan haben."
Die Einrichtung der Kapelle ist ein Beleg dafür, wie sehr die Kurfürsten Johann Friedrich der Großmütige und übrigens auch dessen Vater Johann der Beständige (1468-1532) und sein Onkel Friedrich der Weise (1463-1525) die Reformation unterstützten. In ihrem Schloss gründeten im Jahr 1526 evangelische Fürsten den Torgauer Bund zur Verteidigung der Glaubensfreiheit. Die Reformatoren Luther, Melanchthon, Jonas und Bugenhagen erarbeiteten in der Superintendentur der Stadt 1530 die Torgauer Artikel als Grundlage für die Augsburger Konfession, zentrale Bekenntnisschrift der lutherischen Kirchen. So wurde Torgau zum politischen Zentrum der Reformation. Auch in Luthers Familiengeschichte spielt die Stadt eine Rolle: Seine Ehefrau Katharina von Bora starb 1552 in Torgau, rund 50 Kilometer entfernt von ihrem Zuhause Wittenberg. Katharinas Sterbehaus beherbergt eine Gedenkstätte mit einem kleinen Museum.
Zeitreise ins 16. Jahrhundert
Die historischen Gebäude zu besuchen, lohnt sich in den kommenden fünf Monaten besonders: Vom 15. Mai bis 31. Oktober 2015 ist auf Schloss Hartenfels die Ausstellung "Luther und die Fürsten" zu sehen. Die erste von insgesamt vier nationalen Ausstellungen im Vorfeld des Reformationsjubiläums dokumentiert die Rolle deutscher Fürsten im Zusammenhang mit den Umwälzungen in der Kirche.
Für das Reformationsjubiläum wird das Schloss renoviert, die Kapelle ist schon fertig: Sie hat neue Farbe, neue Stühle und zum Teil einen neuen Fußboden bekommen, außerdem wurde die Beleuchtung modernisiert und die Orgel gestimmt. Dafür hat Torgau knapp 900.000 Euro aus dem Förderprogramm "Reformationsjubiläum 2017" des Bundes bekommen. Insgesamt kosten die Arbeiten am Schloss rund 5,5 Millionen Euro, den Großteil übernehmen der Bund und das Land Sachsen.
Die Schlosskirche ist ab dem Himmelfahrtstag (14. Mai) wieder für Besucher zugänglich. Wer während der Ausstellung in der Kapelle Platz nimmt, erlebt eine kleine Zeitreise zurück zum 5. Oktober 1544: Aus den Lautsprechern ertönen dann Luthers Worte "Meine lieben Freunde, wir wollen jetzt diese neue Haus einsegnen…" – die berühmte Kirchweihpredigt.
* Michael Meyer-Blanck, Liturgie und Liturgik. Der evangelische Gottesdienst aus Quellentexten erklärt, Göttingen 22009