Nimmt man allein die Auszeichnungen als Maßstab, ist Dominik Graf der beste deutsche Regisseur; er hat allein zehnmal den Grimme-Preis gewonnen. Aber Graf ist auch bekannt dafür, dass er es seinem Publikum nicht leicht macht: Seine Krimikunst hat mit dem üblichen Wegwerffernsehen nichts gemein. Der nach einem Drehbuch des Schriftstellers Friedrich Ani (Koautorin: Ina Jung) entstandene Film "Das unsichtbare Mädchen" ist mit dem Bayerischen Fernsehpreis ausgezeichnet worden und hätte Graf durchaus den elften Grimme-Preis bringen können. Erneut zeigt der Regisseur, wie man auf allerhöchstem Niveau inszeniert, ohne den Unterhaltungsanspruch aus den Augen zu verlieren. Dabei betreibt er wie stets einen enormen Aufwand. Die Bildgestaltung (Michael Wiesweg) mit ihren gelegentlichen Anleihen beim Italo-Western ist von einer Präzision, die ihresgleichen sucht, aber das ist im Grunde Dominik Grafs Standard; ebenso wie das sorgfältige Sounddesign, in dem wie in all seinen Polizei-Thrillern die ständigen Funksprüche nicht fehlen dürfen.
Trotzdem lebt der Film vor allem von der Führung der Darsteller. Und natürlich von der Geschichte, die allerdings lange Zeit ziemlich undurchschaubar ist. Reduziert man sie auf ihren Kern, tut man dem Film streng genommen Unrecht, weil die Handlung viel komplexer ist: Der aus Berlin nach Franken versetzte Kommissar Tanner (Ronald Zehrfeld) stolpert quasi buchstäblich über eine Leiche am Straßenrand. Eher zufällig findet er raus, dass die Frau in einem elf Jahre zurückliegenden Fall als Zeugin ausgesagt hat. Damals ist die achtjährige Sina verschwunden. Die Polizei ist von Mord ausgegangen, dabei ist die Leiche bis heute nicht aufgetaucht. Die Zeugin hat sogar angegeben, sie habe das vermeintlich tote Mädchen später noch gesehen. Weil er keine raschen Ergebnisse vorweisen konnte, musste der zuständige Ermittler (Elmar Wepper) die Leitung der Sonderkommission abgeben. Als Tanner von Sinas Mutter (Silke Bodenbender) erfährt, dass die Zeugin von einst die mittlerweile erwachsene junge Frau erneut gesehen haben will, rollt er den alten Fall wieder auf; sehr zum Unmut seines neuen Chefs (Ulrich Noethen), der damals einen geistig Behinderten dazu gebracht hat, die Tat zu gestehen.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Es ist jedoch weniger die Geschichte, die die Faszination dieses Films ausmacht, sondern vor allem Grafs vielschichtige Inszenierung. Die Umsetzung ist derart komplex, dass sogar die Überlänge von 105 Minuten zu kurz wirkt; jede Nebenfigur hat ihr Geheimnis, und längst nicht alle Fragen werden beantwortet. "Stark ist wer liebt" steht auf dem Messer, das Tanner immer bei sich führt; aber die entsprechende Vorgeschichte bleiben Buch und Regie schuldig. Nicht minder fesselnd ist die zweite Ebene des Films. Hier geht es um politische Machenschaften und Intrigen, und am Ende entpuppt sich jemand als Königsmacher, den man überhaupt nicht auf der Rechnung hatte.
Grandios sind vor allem die Schauspieler, allen voran Silke Bodenbender. Ebenso eindrucksvoll ist Ulrich Noethen, und das nicht nur wegen seines ungewohnten fränkischen Dialekts; immerhin hat er einen Teil seiner Jugend in Augsburg gebracht. In dem von ihm verkörperten Kommissar kulminiert sich all das, was Gegenspieler ebenso abstoßend wie faszinierend macht. Und zum Glück ist der erschütternde Schluss von Sinas Geschichte noch nicht das Ende des Films.