Die EU verdreifacht ihre Gelder zur Rettung von Flüchtlingen im Mittelmeer. Das beschlossen die EU-Staats- und Regierungschefs auf einem Sondergipfel in Brüssel. "Wenn das Geld nicht ausreichen sollte, müssen wir eben noch einmal darüber reden", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel. Dabei fehlt es weniger am Geld als am politischen Willen, die vorhandenen Rettungsmittel einzusetzen.
UN-Organisationen kritisierten den Zehn-Punkte-Plan der EU als unzureichend; Amnesty International sprach von einer Mission, "die das Gesicht wahrt, aber nicht Menschenleben rettet". Auch der Reederverband VDR zweifelt: Die angekündigten Maßnahmen für die Seenotrettung "können nur ein Anfang sein".
"Triton" wieder auf Mare-Nostrum-Niveau
Im vergangenen Jahr 2014 wurden 220.000 illegale Einreisen über das Mittelmeer offiziell registriert. Viermal so viele wie im Vorjahr. Das Ziel war meist Italien, aber auch Malta, Spanien und Griechenland. Doch erst die Katastrophen in jüngster Zeit haben ein erneutes Umdenken eingeleitet. In Brüssel war es dann in der Nacht zum Freitag derselbe Kreis der 28 EU-Länderchefs, der vor einem Jahr das Ende des Seenotrettungsprogramms "Mare Nostrum" beschlossen hatte. Bis Ende 2014 haben italienische Marine und Küstenschutz mindestens 100.000 Flüchtlinge gerettet.
Bescheidene neun Millionen Euro monatlich ließ sich Europa "Mare Nostrum" kosten. Nachfolger "Triton" kostete nur ein Drittel davon und konzentrierte sich auf die Sicherung der Grenzen. Nun werden die EU-Finanzmittel für die im November angelaufene und von der EU-Grenzschutzagentur Frontex geführte Operation "Triton" wieder auf Mare-Nostrum-Niveau angehoben.
Über die Zahl der eingesetzten Schiffe, Hubschrauber und Flugzeuge kommen unterschiedliche Signale aus Brüssel. EU-Innenkommissar Dimitris Avramopoulos sprach von neun Schiffen. Merkel und einige andere Regierungschefs kündigten die Bereitstellung eigener Marineschiffe an.
Rettung möglich
Worüber Avramopoulos schweigt: In der Praxis wurden die Rettungsaktionen privatisiert. Handelsschiffe haben im vergangenen Jahr schätzungsweise 40.000 Flüchtlinge aus Seenot gerettet. Doch Ölplattformversorger oder Containerfrachter sind schon medizinisch und sanitär damit überfordert. In einem gemeinsamen Appell hatten sich die Weltverbände der Reeder und die Gewerkschaft der Seeleute ITF vor dem Gipfel an die EU-Regierungen gewandt, endlich energisch zu helfen.
Das Mittelmeer gilt unter erfahrenen Seeleuten als tückisch. Vor allem im Frühjahr ist es "eine tödliche Gefahr", sagt ein Sprecher des Reederverbandes VDR. Dennoch wäre Rettung möglich. "Es mangelt nicht an Schiffen und Experten im Mittelmeer", erklärt ein Seenotretter der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS). Zwar ist das Mittelmeer "weitläufig", so der Seenotretter, aber das zu kontrollierende "Seegebiet ist beschränkt": Abgangshäfen und Zielorte der Flüchtlingsschlepper seien bekannt, sie könnten nur bestimmte Routen fahren und kreuzten bestimmte "Hotspots".
Dazu müsste allerdings das Einsatzgebiet der EU-Seenotrettung weit in Richtung libysche Küste ausgeweitet werden. Bisher patrouillieren die wenigen Frontex-Schiffe nur in europäischer Küstennähe. Viele Boote kentern aber weit draußen auf hoher See oder wie jetzt geschehen vor der libyschen Küste. In dieser entscheidenden Frage sind die EU-Regierungschefs uneins geblieben.
Für einen Hochseeeinsatz allerdings sind die jedem Urlauber an der Nord- und Ostseeküste vertrauten 60 Rettungskreuzer der DGzRS mit rund 20 Metern Länge zu klein. Sie könnten auch keine größere Zahl an Flüchtlingen aufnehmen. Während in Nordeuropa meist private Gesellschaften wie die gemeinnützige DGzRS für die Bergung Schiffbrüchiger zuständig sind, setzen die europäischen Mittelmeeranrainer auf eine staatliche Küstenwache: Mit größeren Schiffen, die auch hochseetauglich sind. Sie könnten anders als die kleineren deutschen Seenotrettungskreuzer ständig in den Gefahrenzonen patrouillieren.
Die Mittel der zivilen Seenotretter reichen allerdings für diese Extremsituation nicht aus. Die Zahl der Schiffe ist für einen monate-, jahrelangen Dauereinsatz zu klein und deren Hubschrauber haben eine zu geringe Reichweite. Schiffe und weitere Hubschrauber könnten die Kriegsmarinen der EU nach dem Vorbild der Anti-Piraten-Initiative "Atalanta" abstellen.
Eine Militärhilfe wäre in wenigen Tagen möglich. So kreuzen aktuell mehrere deutsche Marineschiffe im Mittelmeer. In Deutschland hält die Marine ständig Hubschrauber für die DGzRS einsatzbereit. Auch der Einsatz von Seefernaufklärern "wäre eine Möglichkeit", weiter entfernte Gebiete regelmäßig abzusuchen, sagt ein Sprecher der Search-and-Rescue-Truppe der Deutschen Marine in Rostock auf Anfrage von evangelisch.de. Dazu müssten aber beispielsweise "Abstützpunkte" im Mittelmeerraum gesucht werden. Das sei jedoch machbar. "Wir brauchen eine politische Entscheidung", dann wäre ein Einsatz von Marinekräften "denkbar".
Möglichst lange unentdeckt bleiben
Die Seenotrettung könnte von der EU-Grenztruppe Frontex nach dem Vorbild des Deutschen Havariekommandos koordiniert werden. Das Havariekommando in Cuxhaven hat nur wenige eigene Schiffe und Hubschrauber, kann aber jederzeit Marine, DGzRS, Kräfte der Bundespolizei oder des Technischen Hilfswerkes einsetzen. Sogar Fährschiffe von privaten Reedereien wurden schon zu Rettungseinsätzen befohlen.
Fachleute warnen allerdings vor Illusionen. "Es ist utopisch, alle Menschen zu retten." Zudem stoßen die Retter im Mittelmeer auf "untypische" Probleme: Die Flüchtlinge versuchen möglichst lange, unentdeckt zu bleiben, fahren auf seeuntüchtigen Booten. Sie haben meist keine Seenotmelder an Bord und sind per Radar kaum zu orten. Schiffbrüchige unter diesen Bedingungen zu finden, so ein Sprecher des Havariekommandos, ist "wie eine Nadel im Heuhaufen suchen".