Die einen meinen, Kinder benötigen neben Nahrung, Unterkunft und Kleidung vor allem Zeit, verlässliche Beziehungen und klare Grenzen. Anderen steht das Bedürfnis nach Bewegung, Bildung, Liebe und Zuneigung vor Augen. Danach, ob Kinder auch religiöse Erziehung und Antworten auf die Frage, was denn dem Leben Sinn gibt, brauchen, wird nicht oft gefragt. Religiöse Erziehung und gar die Bibel rangieren selten an vorderster Stelle, wenn es um Kindererziehung geht.
'Mein Kind soll das später selbst entscheiden', sagen viele Eltern. Aber mit dieser vorgeblichen Neutralität treffen Eltern bereits eine wichtige Vor-Entscheidung: Wo Religion und Glaube nicht vorkommen, wird vermittelt, dass diese Dimensionen des Lebens unwichtig sind. "Wie soll jemand entscheiden, ob ihm der Glaube schmeckt, wenn er ihn nie vorher gekostet hat?", fragt der Theologe und Erziehungswissenschaftler Fulbert Steffensky.
'Muss ich auch sterben? Kommt Oma in den Himmel?'
Er sagt: "Als Erwachsene werden wir unseren Kindern immer Lebensvorlagen anbieten, über die sie erst viel später entscheiden können". Seiner Meinung nach, darf der Glaube Kindern nicht vorenthalten werden. "Wir können nicht sagen: 'Warten wir mit der religiösen Erziehung, bis Kinder 16 Jahre alt sind und sich selber entscheiden können.' Kinder haben jetzt ihre Ängste, nicht erst wenn sie 16 sind." Leidenschaftlich plädiert er dafür, eigene Glaubenskargheit nicht zum Maßstab dessen zu machen, was Eltern Kindern vom Glauben erzählen.
Religion kommt im Alltag häufiger vor, als wir auf den ersten Blick wahrnehmen. Das fängt mit dem Arche-Noah-Schiff von Playmobil an. Auf dem Weg zum Kindergarten sehen Kinder die Kirche oder eine Moschee. Kinder bekommen Religion im Festkreis von Ostern und Weihnachten mit. Sie sehen Wegkreuze, erleben vielleicht im Kindergarten ein Tischgebet. Unsere gesamte Kultur trägt Spuren des Christentums. Denn der christliche Glaube hat die europäische Festkultur, Sprache und Kunst geprägt. Selbst die Menschenrechte haben in der jüdisch-christlichen Überlieferung ihre Wurzeln. Wer Kinder in einem religiösen Vakuum aufwachsen lässt, enthält ihnen auch ein Stück Bildung und Humanität vor.
Kinder stellen schon sehr früh von sich aus zutiefst religiöse Fragen. Die Frage nach dem Tod etwa bricht schon früh auf. Ein Haustier stirbt, ein Familienangehöriger wird beerdigt, ein Kind kommt bei einem Verkehrsunfall um. 'Muss ich auch sterben? Kommt Oma in den Himmel? Hat Gott alle Menschen lieb, auch die bösen? Wieso hat Gott die blöden Brennnesseln gemacht? Hat Gott nicht gut genug aufgepasst, wenn ich einen Unfall habe?', das sind Kinderfragen, die auch Erwachsene zum Nachdenken nötigen.
Kaum wiedergutzumachende "Gottesvergiftung"
Friedrich Schweitzer, Pädagoge und Theologe, konstatiert ein "religiöses Kaspar-Hauser-Syndrom", wo Kinder von ihren Eltern weder Anregung noch Unterstützung bei religiösen Fragen bekommen, "Kinder haben ein Recht auf Religion", sagt er. Er beschränkt sich dabei nicht auf die Frage, ob religiöse Erziehung für Kinder vordergründig nützlich ist. Darin ist er sich mit Fulbert Steffensky einig: "Es gibt Dinge, die sich nicht durch ihren Zweck rechtfertigen: die Lieder, die Gedichte, die Küsse, die Muße, das Gebet. Wer diese Dinge von ihren Zwecken her beschreibt, verdirbt sie. Es geht nicht darum zu sagen: Wer glaubt, kommt besser durchs Leben. Es ist schön, wenn unsere Kinder ihr Leben bergen können in die großen Bilder des Glaubens, dass sie es bergen können in die Hände und den Schoß Gottes."
Dennoch ist die Frage erlaubt, was Kinder gewinnen, denen in der religiösen Erziehung ein Fenster zu einer anderen Welt geöffnet wird. "Religion ist Begleitung in dem Sinn, dass Kindern vermittelt wird: Da steht mir jemand zur Seite, es kommt vielleicht Schwieriges, auch Unverständliches, aber ich bin nicht allein", fasst Frieder Harz, evangelischer Professor für Religionspädagogik in Nürnberg, zusammen.
Voraussetzung dafür ist allerdings, dass Gott nicht als Druck, Droh- und Erziehungsmittel missbraucht wird, womöglich, um die elterliche Autorität zu stützen oder religiös zu überhöhen. Aussagen wie, "Der liebe Gott sieht alles, und wenn du nicht lieb bist, kommst du nicht in den Himmel", können Kinderseelen verwüsten und eine kaum wieder gutzumachende "Gottesvergiftung" anrichten, von der der Psychoanalytiker Tilmann Moser in seinem gleichnamigen Buch eindrücklich berichtet hat.
Beten, "eine Kompetenz für's Leben"
Und wenn der Glaube der Eltern Risse bekommen hat, oder nie stark und tragfähig war? Wenn das eigene religiöse Wissen als bruchstückhaft, die eigene Glaubenspraxis als dürftig erlebt wird? Was, wenn Eltern selbst nicht glauben können? "Haben Sie keine Angst vor eigenem bruchstückhaftem Wissen. Machen Sie es so, wie Sie es können", rät der Tübinger Professor für Religionspädagogik Albert Biesinger. Er macht Eltern Mut, eigene Fragen nicht zu verschweigen und sie zum Anlass zu nehmen, sich in Sachen Glaube und Religion kundig zu machen. Zugleich ist er überzeugt: "Biblische Geschichten wirken - ohne dass die Eltern sie komplett verstehen oder glauben. Eine Erfahrung, die ja im Blick auf Märchen auch gilt. Vielleicht kommt so bei Eltern im Blick auf die Beziehung zu Gott etwas wieder in Bewegung, was seit langem verschüttet war, wenn sie selbst einen gottesdienstlichen Ort finden, der ihnen gut tut."
Religiöse Erziehung braucht Rituale: Das Tischgebet etwa kann Dankbarkeit und Achtsamkeit wachsen lassen. Ein abendliches gemeinsames Lied, ein Gespräch über das, was schön oder schwer war, ein frei formuliertes Gebet oder eine Auswahl verschiedener gebundener Gebete kann in Kindern ein Gefühl von Geborgenheit und Vertrauen stärken, das bis in tiefe seelische Schichten reicht.
Albert Biesinger will das frei formulierte Gebet und das Beten mit überlieferten, festen Formulierungen nicht gegeneinander ausspielen. Beten in jeglicher Form ist für ihn "eine Kompetenz fürs Leben". Wer beten kann, kann sich Gott als der Herkunft des eigenen Lebens und der Zukunft des eigenen Lebens über den Tod hinaus anvertrauen. Kinder können beim Beten eine tiefe Geborgenheit erleben, dass sie ein Gegenüber haben, dass Gott für sie da ist", erläutert er. Wichtig ist ihm, dass Eltern nicht nur stellvertretend für ihre Kinder Gebetsworte finden, sondern dass sie ihnen Raum lassen, selbst etwas zu formulieren. Denn, so Albert Biesinger, "Beten ist Gotteskommunikation". Wenn Kinder älter werden und das Abendritual entfällt, kann bis dahin der Grundstein dafür gelegt sein, dass sie sich direkt an Gott wenden. Ob Kinder später davon selbst Gebrauch machen, darauf haben Eltern keinen Einfluss. Aber sie können ein Fenster für das öffnen, was über die sichtbare Welt hinausgeht.