Die Konfirmanden in der ersten Reihe kichern, viele Gottesdienstbesucher schauen irritiert. In unregelmäßigen Abständen klickt es. Und überhaupt, der Anblick an diesem Ostermontag in der Eppsteiner Emmausgemeinde ist ungewohnt: Vorne links neben dem Altar ist eine Staffelei aufgebaut, mit ein wenig Abstand davor ein Stativ samt Kamera. "Ich bin mir bewusst, ich habe heute starke Konkurrenz", sagt Pfarrer Moritz Mittag zur Begrüßung. "Zumindest optisch."
Stefan Budian, Künstler aus Mainz, ist es, der mit dem Pfarrer um die Aufmerksamkeit der Gottesdienstbesucher konkurriert: Er steht an der Staffelei, anfangs ist die Holzplatte,105 mal 60 Zentimeter groß, noch leer. Doch mit Beginn des Gottesdienstes fängt Budian an zu malen. Ein Motiv entsteht, das nächste, dann übermalt er alles. Den Fotoapparat auf dem Stativ löst Stefan Budian mit dem Selbstauslöser aus, um den jeweiligen Stand des "Gemeindebildes" festzuhalten - daher das Klicken."Die Schätze einer Gemeinde liegen in dem, was sie tut. Sie bestehen aus Momenten, in denen Sinn aufleuchtet, freudvoll oder schmerzhaft. Diese Momente geben der Gemeinde eine Form und Identität", erklärt Stefan Budian, was hinter der Idee des Gemeindebildes steckt. Während eine Kirchengemeinde Andachten hält, Seelsorge betreibt, sich in der Flüchtlingsarbeit engagiert, Taufen oder Konfirmationen feiert, reformiere sie sich permanent selbst, so der Künstler. Und diese Reformation, diese Erneuerung, soll das Gemeindebild zeigen, indem Budian seine Eindrücke aus dem Gemeindeleben reflektiert und in das Werk überträgt. Am Ende werden die vielen einzelnen Bilder nicht mehr zu sehen sein, doch sie werden da sein und Teil seiner Genese sein.
"Schon seit einigen Jahren beschäftigt sich die Emmausgemeinde im Hinblick auf das Reformationsjubiläum 2017 mit den Fragen: 'Wie leben wir, was hoffen und glauben wir, worauf vertrauen wir?'", erklärt Pfarrer Moritz Mittag. Auch auf künstlerische Weise. "Ich sehe mich dabei im weitesten Sinne als Art 'externer Berater'", sagt Maler Stefan Budian. Er hat in diesem Zusammenhang bereits Kunstprojekte in der Eppsteiner Gemeinde angeboten. So sind an der Glasfassade des modernen Gemeindehauses "Usien" aus Klebeband angebracht: Vierbeinige Figuren, sparsame Striche, ohne Schnörkel. "Usien sind Wesen aus meiner Bildwelt", erklärt Budian. "Der Name geht zurück auf ein altgriechisches Wort, das 'Seele, das Eigentliche, das Wesentliche' bedeutet." Solche Figuren werden auch im Gemeindebild vorkommen.
Eine Idee von Lucas Cranach
Ob er genau weiß, was er während des Gottesdienstes malen wird? "Nein. Ich habe zwar eine Vorstellung, was die ersten Striche sein werden. Aber danach werde ich sehen, was passiert und mir dazu einfällt. Insofern bin ich eine Art 'Sonde für die Situation'. So sehe ich das", sagt der Maler.
Die Gottesdienstbesucher hat er im Rücken. Budian arbeitet, während Pfarrer Mittag predigt. Das Bild und die Motive wandeln sich: Der Künstler startet mit den Usien, übermalt sie. Dann, während Pfarrer Mittag mit den Gottesdienstbesuchern eine Taufe feiert, sind freundliche, ausladende Blüten zu erkennen.
Später, als Pfarrer Mittag über die Emmausjünger spricht - die Geschichte, die der Gemeinde in Eppstein ihren Namen gab - und die Verzweiflung darüber, dass Jesus tatsächlich gestorben ist, entsteht auf der Staffelei ein Boot in düsterer Atmosphäre.
Am Ende des Gottesdienstes ist wieder eine Usien-Figur zu sehen, alles in Grau- und Blautönen, gemalt in Acryl. Später wird Budian mit Ölfarben arbeiten, aber für den Gottesdienst heute wäre es unpraktisch gewesen, da Öl nicht schnell genug trocknet, erklärt er.
Stefan Budian und Moritz Mittag stellen einen Bezug zu der Arbeit Lucas Cranach des Jüngeren aus dem 16. Jahrhundert dar: So verband der Maler in verschiedenen Werken Darstellungen von Bibelgeschichten mit der Gegenwart der Gemeinde. Diese Bilder wurden häufig gestiftet, um sie der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen. "Daran wollen wir anknüpfen", sagt Moritz Mittag, "wir wollen ein zeitgenössisches Gemeindebild". Dazu passt, dass das Jahresthema der Lutherdekade 2015 "Reformation - Bild und Bibel" lautet.
Kein fertiger Zustand, sondern Erneuerung
Vorgesehen ist, dass im Eppsteiner Gemeindehaus künftig ein Bildschirm aufgehängt wird, der den Stand des Gemeindebildes online überträgt. So kann die Gemeinde die Verwandlung und die jeweiligen Bildzustände miterleben, wenn Budian wird in seinem Mainzer Atelier an dem Bild weiterarbeiten wird. Und am Ende der drei Jahre, so ist der Plan, entsteht aus diesen vermutlich mehreren tausend Bildern aneinander gereiht ein Film, der die Entstehung des Bildes zeigt.
Bislang läuft das Projekt unter dem Titel "Annäherung an das Gemeindebild", denn die Finanzierung steht noch nicht endgültig. Anträge bei der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau und der Beauftragten für Kultur und Medien des Bundes laufen zusätzlich zu dem Anteil, den die Gemeinde tragen wird.
"Schade, dass er die schönen Motive wieder übermalt hat", meint Gottesdienstbesucherin Michaela Reute. Ja, das ist es. Aber Ziel des Gemeindebildes sei es nicht, einen fertigen Zustand zu erreichen, erklärt Stefan Budian. "Alles vergeht. Wir selbst, die Welt, oder zumindest unsere Sicht auf sie. Daraus entsteht Neues." Davon ist Michaela Reute begeistert: "Ich finde es sehr faszinierend, zu beobachten, was da passiert und werde es auch in der kommenden Zeit verfolgen."