"Das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist's eine Gotteskraft", schreibt der Apostel Paulus in seinem ersten Brief an die Gemeinde in Korinth (Kap. 1, Vers 18). Schon damals, als die christlichen Gemeinden sich theologisch zu orientieren begannen, war die Sache mit dem Kreuz nicht einfach zu verstehen: Der, dem sie nachfolgten, Jesus Christus, Gottes Sohn, war von den Römern grausam hingerichtet worden. Warum? Was war der Sinn dieses Todes?
Doch was können solche Worte, solche Deutungen den Menschen zu Beginn des 21. Jahrhunderts sagen? Wer fühlt sich heute noch "schuldig" vor Gott, wer hat noch Angst vor einem Gericht oder vor ewiger Gottesferne? Wer traut sich noch, einem so grausamen Mord irgendeine positive Bedeutung beizumessen? Viele fragen sich: Konnte Gott nicht auf andere Weise Versöhnung schaffen? Wollte er Blut sehen, verlangte er ein Opfer? Musste Jesu Kreuzigung sein?
Die Autoren des Grundlagentextes setzen zu Beginn eine Prämisse: Sie betrachten nicht nur die historischen Fakten der Kreuzigung, sondern beziehen die Auferstehungszeugnisse des Neuen Testamentes mit ein, erklären und deuten Jesu Tod also aus christlicher Perspektive. Das heißt: Die Kreuzigung hat auf jeden Fall eine Bedeutung, die Option "sinnlos" scheidet von vornherein aus. Basis ist die Bibel, insbesondere die vier Evangelien, die Paulusbriefe und 3. Mose 16 als Grundlage für das jüdische Versöhnungsfest Jom Kippur.
Die große Frage nach dem "Opfer"
Für theologische Laien, die etwas lernen wollen, ist der Text ein guter Crashkurs in Theologiegeschichte. Verschiedene Deutungsmodelle werden vorgestellt, angefangen bei Anselm von Canterbury im Mittelalter, weiter mit Luther und den Reformierten, dann über die Philosophen Kant und Hegel zu Friedrich Schleiermacher, dem Theologen der Aufklärung. Aus dem 20. Jahrhundert kommt neben Karl Barth vor allem Eberhard Jüngel zu Wort. Dabei werden zahlreiche Begriffe angeboten, die im Verlauf der Theologiegeschichte als Deutungen für Jesu Tod am Kreuz verwendet worden sind: Satisfaktion oder Genugtuung bei Anselm bei Canterbury, Erlösung des Menschen oder "fröhlicher Wechsel" bei Luther, das Sterben Christi als inneres Mitgefühl bei Schleiermacher, Identifikation und Stellvertretung bei Jüngel.
Ein große Frage schwebt über allem: War Christus ein "Opfer"? Die Debatte ist nicht neu, sie wurde vor einigen Jahren schon einmal geführt, besonders in der Evangelischen Kirche im Rheinland und später in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Einige moderne Theologen sehen im Verständnis des Kreuzestodes als Sühnopfer ein grausames und sadistisches Gottesbild, das der Lehre Jesu von der unbedingten Liebe Gottes widerspricht. Konservative Christen halten dagegen am Opfergedanken fest und argumentieren, der Kreuzestod Jesu verliere ohne die Opfervorstellung seine besondere Bedeutung.
Opfer oder nicht? Wer mit dem neuen Text von der Kirchenleitung eine klare, eindeutige Antwort erwartet, wird enttäuscht werden. "Der EKD-Grundlagentext zeichnet eine mittlere Linie zwischen denjenigen, die unter allen Umständen an der klassischen Gestalt der Sühnopfer-Vorstellung festhalten wollen und den anderen, die die sie sofort streichen wollen", sagt der Berliner Kirchenhistoriker Christoph Markschies, der als Vorsitzender der Kammer für Theologie den Text maßgeblich miterarbeitet hat, dem evangelischen Pressedienst (epd).
Doch klar ist immerhin soviel: Die Interpretation des Neuen Testaments (Römer 3,24-26 und Hebräer 8-10) kann man nicht loslösen von Sündenbock und Sühnopfer in 3. Mose 16. Insofern bleibt "Sühne" auch für die Autoren des Grundlagentextes ein mögliches Erklärungsmodell für Jesu Tod am Kreuz. Allerdings ausdrücklich nicht als Wiedergutmachung, Strafe oder Ausgleichsleistung für die Sünde der Menschheit, sondern als "Ereignis der Vergebung und Versöhnung, der Heiligung und Neuschöpfung" (46), als "heilvolle Wiederherstellung der Gemeinschaft und die Neueröffnung der Gottesbeziehung" (47). Die Deutungsfigur des Sühnopfers verdeutliche, "wie sehr sich Gott in Jesus Christus den Menschen hingibt" (169).
Keine letzte Wahrheit
Auch wenn Menschen Jesus getötet haben - der Handelnde in diesem Versöhnungsgeschehen ist Gott. Jesu Tod am Kreuz ist kein Opfer von Menschen für Gott. "Die Lebenshingabe des Sohnes Gottes wird (im Neuen Testament) als endgültige Ablösung, Überbietung und Erübrigung aller kultischen Opfer und zwischenmenschlichen Konfliktlösungen nach dem Muster des ‚Sündenbocks‘ oder ‚menschlichen Opfers‘ verstanden", heißt es in dem Grundlagentext (36f). Jesu Tod am Kreuz dient demnach nicht der Besänftigung von Gottes Zorn, sondern ist Ausdruck seiner Liebe. "Das Kreuz ist das christliche Zeichen der Menschenfreundlichkeit Gottes und der Versöhnung der Welt", schreibt der EKD-Ratsvorsitzende Heinrich Bedford-Strohm in seinem Vorwort.
Die Suche nach Deutungen ist mit dem EKD-Text nicht beendet. Das "Wort vom Kreuz" bleibt Torheit und Anstoß, und das müsse auch so bleiben, finden die Autoren: "Die Frage nach der Bedeutung der Passion ist bis zum heutige Tage nicht verstummt, und sie wird auch in Zukunft nicht verstummen. Das ist gut. Denn diese Frage verhindert, dass sein Kreuz zu einer Selbstverständlichkeit wird" (18). Eine der entscheidenden Stärken des "Wortes vom Kreuz" bestehe darin, "die Tiefen des menschlichen Elends und seiner Abgründe offen beim Namen nennen zu können" (163).
Wer an den christlichen Gott glaubt, kommt nicht an Kreuz und Auferstehung vorbei, man kann diesen zentralen Teil des Neuen Testamentes nicht aussortieren. Doch auf die Frage, welche Bedeutung Jesu Passion für uns Christen heute haben kann, gibt es nicht die eine richtige Antwort. Manchen erschließt sich der Sinn auch mehr emotional als rational, dazu führt der Text Beispiele aus Film- und Musikgeschichte an. Die am Schluss zusammengestellten "Fragen und Anstöße" erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder gar letzte Wahrheit. Leserinnen und Leser sind eingeladen, weiter zu fragen und zu diskutieren, und die Autoren würden es als "Glücksfall" betrachten, wenn "eine so entstandene Antwort die Erklärungskraft der ihr entsprechenden Antwort im Text überträfe" (23). Anders gesagt: Wer evangelisch ist, muss selber denken.