Werte Fastende,
die fünfte Woche unseres gemeinsamen Verzichtens bricht an. Seit vier Wochen versagen wir uns, mit dem Finger auf Fehler zu zeigen, Hässliches und Unvollkommenes aufzudecken. Für die neue Woche wird uns nun ein Text an die Seite gestellt, der auch als das "Kinderevangelium" bekannt ist. Jesus wendet sich hier gegen den Widerstand seiner Jünger Kindern zu und sagt einen Satz, der immer wieder zu Spekulationen geführt hat: "Den Kindern gehört das Himmelreich." Was heißt das? Was haben Kinder an sich, dass ihnen das Himmelreich gehören sollte?
Eine beliebte Antwort auf diese Frage ist: Kinder sind so unverdorben und rein, dass Jesus ihnen den Himmel verspricht. Doch diese Erklärung geht mit einem sehr romantischen Kinderbild einher, das schlecht in die Zeit Jesu passt. Kinder waren ein sichtbares Zeichen für Gottes Segen, weil sie Zukunft bedeuteten. Als besonders rein wurden sie vermutlich nicht angesehen. Auf der Suche nach der Bedeutung dieses Satzes von Jesus lohnt es sich, einen Blick auf die parallele Überlieferung der Geschichte bei dem Evangelisten Markus zu schauen. Dessen Version ist etwas ausführlicher. Jesus sagt dort noch den Satz: "Wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen." (Mk 10,15)
Was ist uns "unverdient" geschenkt worden?
Eine Eigenschaft von Kindern zu jeder Zeit ist, dass sie selbstverständlich darauf vertrauen, dass sie geschenkt bekommen, was sie brauchen. Das ist etwas, was Jesus immer wieder von seinen Zuhörerinnen und Zuhörern fordert: Vertraut darauf, dass Gott euch gibt, was ihr braucht. Verlasst euch nicht auf eure eigene Leistung.
Was ihr habt, ist euch geschenkt worden, ihr habt es nicht verdient. Ich verstehe darum auch den Satz "solchen gehört das Himmelreich" auf diese Weise: Glaubt nicht, dass ihr euch das Himmelreich verdienen könnt. Nehmt es an wie ein Kind, das ganz natürlich weiß, dass es von anderen abhängig ist. Jeder Schutz, jedes Essen, alles, was ein Kind hat, bekommt es selbstverständlich geschenkt. Darum die Aufforderung an die Umstehenden in dieser Geschichte: Macht euch klar, dass ihr das Wichtigste nicht verdient, sondern es geschenkt bekommen habt.
Darum, liebe Leserin, lieber Leser, möchte ich mit Ihnen in dieser Woche diesen Blick trainieren: Was haben wir alles, das uns nicht aus unserem Fleiß oder unserem Können zugefallen ist? Was ist uns "unverdient" geschenkt worden? Das ist auch eine Übung in Demut, oder – wenn Ihnen das lieber ist – in Bescheidenheit, denn wir lassen ein wenig die Luft aus unserem Selbstbild, das häufig davon geprägt ist, dass wir verdient haben, was wir besitzen. Diese Haltung aber macht eitel.
Anleitung
Schauen Sie sich um: Viele Gegenstände, die Sie jetzt sehen können, haben eine Geschichte und eine Bedeutung. Suchen Sie mit Ihrem Blick nach Gegenständen, die entweder selbst ein Geschenk sind, oder die sozusagen von einem Geschenk erzählen. Finden Sie Gegenstände, die Ihnen davon erzählen, dass Sie sich das Wichtigste nicht verdient haben, sondern geschenkt bekommen haben. Es spielt dabei keine Rolle, ob andere Menschen diese Geschichte verstehen würden. Was zählt, ist die Bedeutung, die Sie allein diesem Gegenstand geben. Dadurch wird der Gegenstand zu einem Symbol für Sie – einem Symbol für die Geschenke Gottes und für das Himmelreich, das Sie sich auch nicht verdienen können. Während Sie Ihren Blick schweifen lassen, sammeln Sie in aller Ruhe mehrere solcher Symbole. Genießen Sie die Geschichten, die mit den Dingen verbunden sind, und versuchen Sie, die Freude wieder zu empfinden über die Geschenke, die Sie bekommen.
Wenn Sie mögen, können Sie diese Suche noch an anderen Orten fortsetzen. Sammeln Sie Geschenke! Und dann nehmen Sie einen dieser Gegenstände und stellen Sie ihn an einen Ort, den Sie mehrmals am Tag im Blick haben: auf Ihren Schreibtisch vielleicht oder auf den Essenstisch oder auch ins Bad. Am besten geeignet ist ein Ort, an dem Sie über diesen Gegenstand "stolpern" werden, weil er dort eigentlich nicht "hingehört". Wenn Ihr ausgewählter Gegenstand dort steht, kann er für Sie eine Woche lang zum Symbol werden. Lassen Sie sich eine Woche lang von Ihrem Symbol daran erinnern, was Ihnen alles geschenkt wird. Üben Sie sich eine Woche lang in der Bescheidenheit und Gelassenheit, die sich breitmacht, wenn man nicht glaubt, alles durch eigene Kraft erlangt zu haben.
Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen und eine Woche voller Dankbarkeit.
Ihr Frank Muchlinsky