Foto: dpa/Daniel Naupold
"Wenn der Rückhalt fehlt, wird es schwierig"
Seelsorger Ulrich Tietz über Hilfe für Strafgefangene
In dem Film "Zwei Seiten - Leben mit der unverzeihlichen Tat" schildert der Gefangene Martin Schmidt seine Gedanken und Gefühle in der Haft: 2007 hatte er mit einem Messer auf seine Geliebte eingestochen. Trotz allem hielt Anke, seine Frau, zu ihm. Im Gefängnis wurde Schmidt von Seelsorger Ulrich Tietze betreut – Tietze sagt, auf dem Weg zurück in ein normales Leben sei die Unterstützung durch die Familie für Straftäter das Wichtigste.
23.03.2015
Patrick Slesiona, Christian Werner, Marcel Wogram

Wie kann die Resozialisierung von Strafgefangenen durch Seelsorge unterstützt werden?

Ulrich Tietze: Seelsorge lässt einen Raum, in dem ungefiltert geredet werden kann. Der von mir hoch geschätzte psychologische Dienst, mit dem ich auch zusammenarbeite, muss bestimmte Sätze der Gefangenen weitergeben, sobald Sicherheit und Ordnung als gefährdet gesehen werden. In der Seelsorge kann ein Gefangener mir alles sagen – wie ich dann damit umgehe, muss ich für mich erstmal sehen. Aber diesen Raum des Vertrauens zu haben, halte ich für etwas sehr Wichtiges. Das ist im Gefängnis, glaube ich, eine sehr seltene Erfahrung. Mir sagen Gefangene oft: "Seelsorge ist der Ort, wo wir uns ganz als Menschen behandelt fühlen." Ich kann das an zwei sehr konkreten Beispielen deutlich machen: Seit über neun Jahren mache ich Theaterarbeit mit Gefangenen. Die schreiben ihre Stücke weitgehend selbst. Bei einem großen Projekt vor einigen Jahren sagten zwei Gefangene mir unabhängig voneinander: "Wenn ich zur Theatergruppe gehe, bin ich ein Mensch, sonst bin ich ein Gefangener." Das heißt, sie erleben ein Stück ihres eigenen Menschseins mit Entfaltungsmöglichkeiten, mit kreativen Formen.

Wie groß ist der Erwartungsdruck auf Sie?

Tietze: Die Schwierigkeit ist der Bruch zwischen der Welt drinnen und der Welt draußen. Was Gefangene an therapeutischen Schritten für sich drinnen nachvollziehen und erleben, das muss dann ja draußen fruchtbar gemacht werden. Da wird's schwierig und da komme ich nicht an der Eigenverantwortung des Menschen vorbei. Wenn jemand eine Gewalttat begangen hat, dann ist er durch keine Form der Therapie davor gefeit, dass es wieder geschieht. Im Menschen kann das Böse durchbrechen, da spüren wir auch Ohnmacht. Ich kann nie verhindern, dass Menschen straffällig werden, ich kann auch nicht verhindern, dass sie rückfällig werden. Es gibt nur Wahrscheinlichkeiten und nicht absolute Sicherheiten.

Wodurch haben sich Erfolge bemerkbar gemacht?

Tietze: Es gibt ein gutes Wort wie ich finde, vom jüdischen Theologen Martin Buber: "Erfolg ist keiner der Namen Gottes." Das ist eine Maxime der Gefängnisseelsorge geworden. Wenn ich den Erfolg als Kriterium ins Gespräch bringe, dann vielleicht so: Wenn ein Gefangener - vielleicht auch durch meine Arbeit - sich nochmal ganz neu anschauen lernt, zum Beispiel in dem er die Erfahrung macht: "Ich kann Texte schreiben, ich kann malen, ich kann singen lernen, ich kann Gitarre spielen lernen", dann entdeckt er in sich eine kreative, vielleicht auch sehr konstruktive Seite und kann sich damit auch vielleicht nochmal neu definieren. Aber das ist natürlich ein hohes Ziel. Ob durch meine Arbeit in Zukunft irgendjemand nicht mehr straffällig wird – mit diesem Anspruch bin ich sehr zurückhaltend geworden. Ich erlebe einfach zu oft, dass Menschen immer wieder kommen, und das ist eben nicht nur die böse Gesellschaft oder das böse Umfeld, sondern das hat schon auch etwas mit den Menschen selbst zu tun. Wenn ich mich selber auf die Drogenabhängigkeit immer wieder einlasse, dann kann das von außen keiner verhindern. Ich erlebe relativ viel unerwachsenes Verhalten und möchte gern mithelfen, dass Menschen ein bisschen erwachsener werden.

"Keiner von uns ist frei von Bildern im Kopf"

Wie kann die Gesellschaft ehemaligen Häftlingen eine Chance geben, wieder ein Teil von ihr zu werden?

Tietze: Die Schwierigkeit ist, dass die Menschen diesen Teil der hinter ihnen liegenden Zeit, möglicherweise mehrere Jahre, eigentlich nie thematisieren können – außer wieder in der alten Clique und das ist oft ein destruktives Umfeld. Wenn einer wieder in die Drogenszene geht, dann geht er ja dorthin wieder zurück, wo er abgestürzt ist und wo er straffällig wurde. Ich nehme bei Gefangenen wahr, dass es immer eine enorme Hilfe ist, wenn die Familie noch für sie da ist. In dem Moment, wo Menschen sagen: "Du gehörst zu uns, du bleibst unser Sohn, mein Mann…", dann wird es natürlich viel leichter. Ich erlebe stellenweise, dass Menschen draußen gut klar kommen, wenn sie wieder integriert werden – das kann im Sport sein, das kann in der Kirche sein, das können alle möglichen Aktivitäten sein. Es ist unglaublich wichtig, dass die Person weiß: "Ich bin bekannt als ehemaliger Straftäter, ich muss das nicht permanent verschweigen, ich muss nicht so tun, als wäre ich drei Jahre in die Wüste gezogen oder an den Nordpol." Wenn der Rückhalt fehlt, wird es schwierig. Aber letzten Endes glaube ich, dass der entlassene Strafgefangene irgendwann gelernt haben muss, zu sich selbst zu stehen.

Liegt es nicht zu einem großen Teil an uns "draußen", dass es zu einer guten Wiedereingliederung kommt?

Tietze: Ich glaube, es hat am Ende ganz viel mit dem Menschenbild zu tun, das wir in uns tragen: Was für ein Bild vom Menschen habe ich? Ich glaube, wir müssen immer wieder gucken, welche Vorurteile wir haben. Ich lerne, das immer wieder zu überprüfen. Aber ich bin mittendrin in dem Prozess. Ob ich in sieben Jahren, wenn ich in Pension gehe, weiser bin als heute, weiß ich nicht. 

Die Schwierigkeit ist: Keiner von uns ist frei von Bildern im Kopf. Es gibt ein Gedicht von Bertolt Brecht: "Einem Mann wurde seine Axt gestohlen und er hatte den Nachbarsjungen in Verdacht. Und der Junge bewegte sich wie ein Axtdieb und sprach wie ein Axtdieb und ging wie ein Axtdieb. Und der Mann findet diese Axt wieder und hatte sie selber verlegt – und sieht den Jungen und der geht nicht wie ein Axtdieb und der spricht nicht wie ein Axtdieb und er verhält sich auch nicht so." Das finde ich ein sehr gutes Beispiel für diese Bilder im Kopf: Das ist ein Krimineller, und schon laufen die ganzen Filme in uns ab.

Vor längerer Zeit kam ein Bediensteter auf mich zu und fragte: "Herr Tietze, haben sie mal wieder einen anständigen Mörder für uns? Uns gehen die Drogis so auf den Keks." Das fand ich einen klassischen Satz. Der Mensch, der eine vielleicht ganz schreckliche Gewalttat zu verantworten hat, hat nicht 30 Jahre Heroin konsumiert. Der Mörder, der Bankräuber – das sind Leute, die eben nicht ihr ganzes Leben mit Selbstbeschädigung verbracht haben. Das ist ein großer Unterschied. Seine Persönlichkeit ist eine andere. Er hat unter Umständen etwas ganz Furchtbares getan, aber das sagt noch nichts über die Anteile seiner Person aus, die ganz woanders liegen. Der Drogenabhängige - wie der Alkoholiker auch - ist irgendwann zu einem ganz großen Teil wirklich nur noch süchtig. Und diese anderen Teile zu wecken, die ihn kreativ sein lassen, die ihn menschlich sein lassen, die nicht süchtig sind, das ist eine immense Herausforderung.

Warum haben sie uns Martin Schmidt für unseren Film empfohlen?

Tietze: Also erstmal hat er sich bereit erklärt. Es gibt Leute, bei denen wäre ich gar nicht auf die Idee gekommen und andere, da hätte ich gesagt: "Finde ich schwierig." Weil ich es den Leuten nicht zutraue, vor einer Kamera Auskunft zu geben. Er ist ja ein Mensch, der sich artikulieren, formulieren und reflektieren kann.