Haben Sie schon einmal über einen Text aus dem Hohelied gepredigt?
Kathrin Oxen: Ja, und zwar im Februar im Rahmen einer Predigtreihe zum Thema Gottesbilder in Berlin. Da habe ich einen Text aus dem Hohenlied genommen und über Gott als Liebhaber gepredigt. Das war eine sehr schöne Erfahrung, hat ganz viel Spaß gemacht.
Wie fühlt sich das an? Ist es peinlich, aufregend, schwierig?
Wie kam das an?
Oxen: Hervorragend, es war ganz toll. Die Leute fanden, dass es nah an ihrem Leben und ihren Erfahrungen ist. Vor allen Dingen sind da viele Emotionen drin, und das ist der Weg, auf dem man Leute wirklich erreichen kann. Das merke ich auch sonst beim Predigen, aber wenn die Emotion auch schon im Text drin ist, dann wirkt sich das auf die Predigt aus. Darüber kann man dann eben nicht abstrakt oder akademisch reden, da muss man dann schon ein bisschen mehr Herz reinbringen. Das war sehr schön und wurde gut angenommen.
Das Hohelied ist voll mit Naturbildern: Tauben, Ziegen, Gazellen; es fließen Honig, Milch und Wein; der Garten ist voll mit bunten Blumen, duftenden Gewürzen und leckeren Früchten. Wie passen diese Bilder aus dem damaligen Libanon in die Welt heutiger Predigtzuhörer?
Oxen: Das sind Bilder mit symbolischer Kraft. Die sind ja teilweise schon sprichwörtlich: "Milch und Honig", das sagt man ja selbst zu Leuten, die gut aussehen. Ich sehe nicht das Problem, dass es irgendwie abständig oder weit weg wirken würde, gar nicht. Es ist eben eine sehr sinnliche und bildliche Sprache und darunter können sich alle gut etwas vorstellen. Ich weiß auch, dass die Bilder wirken und Assoziationen freisetzen: Wenn die Rede vom Frühling ist und wir sitzen da und es ist noch alles sehr kahl draußen, dann weckt das Erinnerungen und Emotionen. Die Sprache des Hohenliedes ist auf jeden Fall von großer Kraft.
In Antike und Mittelalter wurden die Texte aus dem Hohenlied allegorisch interpretiert: Es gehe um die Liebe zwischen Gott und seinem Volk oder zwischen Christus und der Gemeinde. Was halten Sie davon?
Oxen: Das war so ein bisschen notwendig, denn man musste irgendwie rechtfertigen, wie dieses hocherotische Gedicht in die Bibel hineingeraten war. Das ist ja nicht so richtig nachzuvollziehen, es weiß keiner so genau, wie das passieren konnte. Jetzt waren die Texte da, und aus Respekt vor der Bibel hat man versucht, sie zu deuten. Den Gedanken, dass sich in der Liebe zwischen zwei Menschen etwas von Gottes Liebe abbildet, finde ich eigentlich ganz naheliegend. Ich finde nur, man muss dann auch genau hingucken und sagen: Wenn das Gottes Liebe ist, dann ist Gott ein sehr feuriger Liebender.
Das Hohelied bringt eine andere Dimension in die Vorstellung, dass Gott uns liebt, hinein. Dass Gott uns liebt, verstehen wir bormalerweise vielleicht eher so, dass er immer für uns da ist und wir ihm vertrauen können, wie ein Paar nach vielen Jahren, wenn man sich aufeinander verlassen kann. Aber dass Gott auch diese feurige Liebe des Anfangs und des Frühlings und der Jugend ist, das halte ich für einen ganz bemerkenswerten schönen Gedanken, der mir aber sehr verborgen erscheint. In Auslegungen kommt der jedenfalls selten mal raus. Die Vorstellung ist ungewohnt, aber sie hat für mich eine hohe Anziehungskraft.
"Wir sind ganze Menschen mit Körper, Kopf, Herz und Verstand. Das zu trennen war keine gute Entwicklung"
Schauen wir konkret die beiden Predigttexte an: Hohelied 2,8-13, vorgeschlagen für den zweiten Advent: Der Frühling beginnt, der Freund kommt und trifft seine Schöne wieder – was würden Sie damit in einer Predigt machen?
Oxen: Ich denke, in dem Text ist das Kommen das zentrale Thema – und vor allen Dingen auch die Erwartung, das sehnliche Warten im Advent. Kindern gewähren wir das und sind sogar bereit, es pädagogisch zu begleiten. Aber dass wir selber auch sehnsüchtig warten können, ist ja eigentlich eine Erfahrung, die eher abnimmt, je älter man wird. Ich finde, der Text ermuntert dazu, sich daran zu erinnern: Wo habe ich eigentlich Sehnsucht, wo warte ich überhaupt noch auf irgendetwas? Oder warte ich gar nicht mehr? Diese Aspekte kann man gut mit dem Advent verbinden.
Wie waren bisher die Rückmeldungen von Pfarrerinnen und Pfarrern, die diesen Text gepredigt haben?
Oxen: Gerade beim zweiten Advent haben wir ganz viele begeisterte Rückmeldungen bekommen. Die Kolleginnen und Kollegen waren alle sehr angeregt und fanden das sehr schön. In dem Text ist ja auch dieser Vers drin: "Er steht vor der Tür und sieht durch die Gitter." Das, fanden viele, ist ein ganz tolles Bild für Erwartungen. Es war sehr positiv – wie es überhaupt sehr positiv aufgenommen wird, dass mit der neuen Perikopenordnung mehr Texte aus dem Alten Testament drankommen und auch Textarten, die sonst eher unterrepräsentiert waren.
In Hohelied 8, 6b-7, vorgeschlagen für den 20. Sonntag nach Trinitatis, geht es um die Stärke der Liebe und der Leidenschaft, nichts kann sie auslöschen. Ein guter Text für eine Trauung – aber was sollen Nicht-Verliebte in einem normalen Gottesdienst damit anfangen?
Oxen: Ich habe den Text tatsächlich mal bei einer Trauung verwendet, den kann man gut nehmen und den Vers suchen sich ja Paare oft als Trauspruch aus. "Liebe ist stark wie der Tod" wird sonst gerne als Hoffnungsbild genommen, dass die Liebe über den Tod siegt. In vielen - auch weltlichen - Todesanzeigen sehe ich den Gedanken, das einzige, was dem Tod irgendwie standhalten könne, sei die Liebe. Ich finde, der Text ist ein gutes Bild für die Kraft der Liebe. Dass man die erfährt, ist etwas, das man auch als nicht gerade aktuell verliebter Mensch nachvollziehen kann, finde ich. Vielleicht gerade als nichtverliebter Mensch. Ich finde, für Verliebte braucht man zum Hohelied nicht so viel zu sagen. Die würden wahrscheinlich einfach bestätigen: Ja, genau so ist es! Aber alle anderen erinnert es vielleicht an das Gefühl oder macht sie wieder sehnsüchtig. Darin liegt das Potenzial.
Finden Sie, wir sollte in der Kirche mehr über Liebe, Erotik, Sinnlichkeit und Schönheit reden?
Oxen: Ja, das finde ich schon! Ich glaube nicht, dass es dem Christentum gut getan hat, diese Themen über viele Jahrhunderte auszublenden – weil wir eben ganze Menschen sind. Jemand hat mal gesagt: Der Körper ist mehr als der Gegenstand, der den Kopf unter die Kanzel trägt. Wir sind ganze Menschen mit Körper, Kopf, Herz und Verstand. Das zu trennen war keine gute Entwicklung. Solche Texte wie das Hohelied wieder mehr zu hören und zu Gehör zu bringen, steuert dieser Entwicklung ein bisschen entgegen. Denn wir sehen ja sonst auch überall, dass der Körper eine sehr große Rolle spielt, seine Schönheit und auch sein Verfall. Das wird alles sehr ausführlich thematisiert, nur wir in der Kirche sagen: "Darauf kommt es nicht an." Das ist für viele Menschen nicht anschlussfähig.