Eine proppenvolle Kirche, eine Stellungnahme zur Problem-Predigt von Olaf Latzel und am Ende des Gottesdienstes "standing ovations": Gemeindemitglied Hans erinnert sich sehr deutlich an den Gottesdienst vom 8. Februar und stellt gleich klar: Der Applaus damals galt ganz bestimmt nicht Pastor Latzel, das war einfach zur Ehre Gottes. "Man hat den Segen gespürt. Ich hatte Tränen in den Augen, weil ich wusste: Hier steht Gott hinter dieser Gemeinde."
Soll die Welt draußen doch toben, wie sie will, meint Hans und zieht eine Parallele zur Kreuzigung: Auch damals habe die Menge getobt und verlangt: "Gib uns Barabas", als Pilatus sie vor die Wahl stellte. Jesus, den Sohn Gottes, nagelte sie ans Kreuz. "Da hat sich nicht viel geändert", sagt Hans.
Der erzählfreudige Herr Anfang 50 kommt aus Ostfriesland und fährt rund eineinhalb Stunden, um beim Gottesdienst in St. Martini dabei zu sein. Der Stellungnahme der Gemeinde, inklusive der Entschuldigung für verbale Entgleisungen und dem Bekenntnis zu einem bunten Bremen, hat er nichts hinzuzufügen. Dass einzelne Gemeindemitglieder jetzt politische Vertreter beschimpfen, die sich in einer Entschließung "von allen Versuchen, unter dem Deckmantel von Predigt und Schriftauslegung Hass gegen Anders- und Nichtgläubige zu verbreiten" distanziert haben, findet er auch nicht gut. In der umstrittenen Predigt sei zum guten Miteinander mit Menschen anderer Religionen aufgerufen worden, das betont auch die Stellungnahme der Martini-Gemeinde. Gleichzeitig bleibe man aber theologisch beim christlichen Bekenntnis, sagt Hans: "Der Weg zum Heil führt allein über den Glauben an Jesus Christus."
Christus als Zentrum, der Pastor als Autorität
Thorsten, ebenfalls Mitglied der Gemeinde, nickt zustimmend. Vor drei Jahren ist der Mittvierziger nach Bremen gezogen und hat sich ganz bewusst die Martini-Kirche ausgesucht. In Bremen gibt es ein breites Spektrum an Profilkirchen. Da ist es auch für Landeskirchler nicht unbedingt üblich, einfach zur Kirche um die Ecke zu gehen. Er schätzt nette Nebensächlichkeiten wie das Miteinander, nach dem Gottesdienst noch zusammen zu stehen, sich auszutauschen, einmal im Monat zusammen zu essen. Besonders gut findet Thorsten Pastor Olaf Latzel, der ist ihm sympathisch, mit seiner dynamischen Art. Frauen auf der Kanzel sind für ihn an sich kein Problem, sagt er, kann aber damit leben, dass das in der Martini-Gemeinde nicht erlaubt ist und versteht auch die theologische Begründung.
Hans ist seit elf Jahren dabei, "weil hier noch das Evangelium gepredigt wird und Jesus Christus ernst genommen wird. Die Heilige Schrift wird hier ernst genommen. So wie es geschrieben steht. Nicht rechts und nicht links", sagt er. Wer Gottes Wort ernst nimmt, macht Erfahrungen damit, und erlebt es persönlich, davon ist Hans überzeugt. Kritiker ermutigt er, sich darauf einzulassen.
Auch an diesem 1. März, dem Sonntag Reminiscere, predigt Olaf Latzel wieder. Er spricht über Jesus, den "verworfenen Eckstein". 12 Gründe der EKD, warum man in der Kirche sein sollte, liest er vor, und kritisiert: "Da kommt Jesus nicht einmal vor." Olaf Latzel ist ein Freund der klaren Worte, nicht erst seit dem 18. Januar: "Wer aufhört, von Jesus zu sprechen, beerdigt Kirche." Latzel predigt, dass "dir nichts mehr passieren kann, wenn Jesus der Eckstein deines Lebens ist". Auf dem kleinen Zettel, der am Eingang gemeinsam mit dem Gemeinschafts-Liederbuch "Jesus unsere Freude" verteilt wurde, stehen neben Bibelvers und Predigtgliederung noch Bibelstellen als tägliche Hausaufgabe, von Montag bis Samstag. In der Martini-Gemeinde wird der Glauben sehr ernst genommen.
Auch Thorstens Frau nimmt die Predigt ernst und klagt: "Wie kann es denn sein, dass die Pastoren alle nicht mehr glauben? Zumindest nicht so, wie wir glauben? Das ist ja unverständlich!"
"Wenn man es leise und vorsichtig sagt, hört es keiner"
Es herrscht großer Respekt vor Gottes Wort in St. Martini. Sobald es im Gottesdienst gesprochen wird, stehen alle auf. Gleichzeitig ist die Kirche seit der öffentlichkeitswirksamen Predigt vom Januar 2015 voller als zuvor. Bis zu 500 Besucher kommen nun regelmäßig, vorher waren es um die 300.
In den Gottesdienst kommen auch Menschen, die eigentlich in anderen Gemeinden der Bremischen Evangelischen Landeskirche sind, jetzt aber erstmal St. Martini den Rücken stärken wollen. Hermann, ein weiteres der rund 1.300 Martini-Mitglieder, schlägt vor: "Die Bremer Pastoren, die gegen Latzel protestiert haben, sollen mal lieber in Ankara oder Teheran für die Rechte von verfolgten Christen demonstrieren." Hermann, technischer Kaufmann reiferen Alters, ist regelmäßig mittwochs bei der Bibelstunde. Er will das klare Evangelium hören. Gemeinde ist für ihn Familie, der Glaube gibt ihm Halt.
Die öffentliche Diskussion um die Predigt vom 18. Januar hat auch viel positives Feedback gebracht, sagt Ellinor, ebenfalls Mitglied der Gemeinde St. Martini. Anfangs dachte sie, Pastor Latzel habe sich zu hart ausgedrückt. Dann wurde ihr aber klar: Wenn man es leise und vorsichtig sagt, hört es keiner, berichtet sie. Deshalb steht sie zu ihrem Pastor. Sie ist traurig über den Protest und die Absicht, die Gemeinde als altertümlich abzutun: "Das kommt von Leuten, die die Gemeinde nicht kennen, das Leben hier nicht kennen." Ja, man sei konservativ und bibelbezogen, aber doch nicht unmenschlich, versichert die ältere Dame.
Der Glaube ist ein Geschenk, sagt ihre Schwester Eva-Maria. Mit Blick auf Menschen anderer Religionen sagt sie: "Die müssen selbst wissen, was sie glauben. Das können wir nicht machen. Selbstverständlich haben früher schon unsere Kinder zusammen gespielt, wir lieben diese Menschen", versichert sie mit Blick auf Muslime. Das ändere aber nichts daran, dass der Islam nicht zu Deutschland gehöre, wie es Pastor Latzel in der umstrittenen Predigt deutlich betonte.
Die evangelikal geprägten Kirchen in Bremen sind voll
Die Bremer Gemeinden sind sehr frei. Sie wählen ihre Pastoren selbst, die Landeskirche mit Schriftführer Renke Brahms an der Spitze hat wenig Einfluss. Im Juli vergangenen Jahres haben sich landeskirchliche Bremer Pastoren des "Arbeitskreises missionarische Kirche" gegen eine "Verwässerung der christlichen Botschaft" gestellt und die bundesweite Initiative "Zeit zum Aufstehen" unterschrieben. Acht von 61 Gemeinden der Bremischen Evangelischen Kirche gehören zu diesem Arbeitskreis. Homo-Ehe, Abtreibung, Sterbehilfe: Wenn Kirche den Menschen in solchen ethisch-moralischen Fragen moderne, aber nicht schriftgemäße Antworten gebe, komme dies einer Verwässerung der christlichen Botschaft gleich, sind die Pastoren überzeugt.
Ihr Sprecher ist Andreas Schröder, Pastor der St.-Matthäus-Gemeinde und Vorsitzender der Evangelischen Allianz in Bremen. Von der Evangelischen Allianz sind die Gemeindeglieder enttäuscht, weil sie sich nicht voll und ganz hinter Olaf Latzel gestellt habe. Schröder erklärt, warum: Die große Bandbreite der Gemeinden innerhalb der Bremischen Landeskirche von stark liberal bis theologisch konservativ sieht er als "Herausforderung und Chance", aber problematisch werde es da, wo man anderen etwas abspricht, diffamiert, polemisiert. Deshalb habe sich die Evangelische Allianz vom Stil der umstrittenen Latzel-Predigt distanziert. Grundsätzlich stehe sie aber zu Pastor und Gemeinde, erklärt Schröder.
Bei der Auslegung der Bibel müsse sauber gearbeitet werden und die darin enthaltenen Wahrheiten sorgfältig in die heutige Zeit übertragen werden, sagt Schröder, und will weg vom "Lagerdenken". Er sieht in der Diskussion um Latzels Predigt eine große Chance, bundesweit neu in eine wichtige Debatte einzusteigen: Wofür steht Kirche, was ist das Evangelische und was glaube ich eigentlich? Bremer Kirchengemeinden, die eher der evangelikalen Strömung zuzurechnen sind, können sich über volle Gottesdienste freuen, sagt der Pastor und stellt eine "Abstimmung mit den Füßen" fest: Die Menschen würden nicht kommen, wenn sie dort nicht etwas bekämen, was sie auch suchten.
Ecken und Kanten aushalten
Schröder wehrt sich dagegen, dass evangelikal oder theologisch konservativ mit fundamentalistisch gleichgesetzt wird. Es sei doch kein Problem, freudig zu dem zu stehen, was man glaube, eine positiv gestimmte Botschaft in Wort und Tat vorzuleben, gleichzeitig aber auch tolerant zu sein und respektvoll mit andern umzugehen. Für ihn schließen sich der Wahrheitsanspruch des christlichen Glaubens und Toleranz gegenüber Menschen anderer Kulturen und Religionen nicht aus. Eine demokratische Kirchengemeinschaft wie die Bremische Evangelische Kirche müsse auch Gemeinden wie die Martini-Gemeinde "mit ihren Ecken und Kanten" aushalten.
Die Evangelische St.-Martini-Gemeinde bekennt sich zur Barmer Theologischen Erklärung von 1934. Darin steht: "Jesus Christus, wie er uns in der Heiligen Schrift bezeugt wird, ist das eine Wort Gottes, das wir hören, dem wir im Leben und im Sterben zu vertrauen und zu gehorchen haben." Darin bleibt die Frage offen, was bibeltreu bedeutet – die Schrift einfach Wort für Wort als von Gott gesprochen zu verstehen, oder dem jeweiligen Text treu zu sein, ihn in seiner Gattung und Entstehung ernst zu nehmen. Innerhalb der bunten Vielfalt der Bremischen Landeskirche hat sich die Martini-Gemeinde da klar positioniert: Gläubiger Mensch ist nur, wer an Jesus glaubt. Mehr nicht, so der Tenor unter den Gemeindeliedern, die sich dazu äußern. Hans macht schließlich klar: "Ich werde mich nicht des Evangeliums schämen."