"Es ist ein großer Moment und ein unbeschreibliches Erlebnis für den Komponisten und alle mitwirkenden Musiker", sagt Riccardo M. Sahiti, der Dirigent der Roma und Sinti Philharmoniker. Es ist das einzige, erst seit wenigen Jahren bestehende Ensemble von professionellen Sinfonikern europaweit, die sich aus der Minderheit der Sinti und Roma rekrutieren. Gemeinsam mit dem Amsterdamer Studentenchor sowie Solisten aus den Niederlanden werden sie das etwa einstündige Werk aufführen, das in diesem Jahr noch in fünf weiteren europäischen Ländern zu erleben sein wird, darunter am 24. Oktober in Deutschland, in der Alten Oper in Frankfurt.
Unüberhörbare Botschaft der Humanität
So außergewöhnlich das Projekt, so ungewöhnlich auch die Vorgeschichte. Seit über 40 Jahren ist Moreno-Rathgeb Berufsmusiker und - wie viele Sinti-Musiker - Autodidakt. Erst im fortgeschrittenen Alter begann er mit dem Erlernen der Notenschrift und eigenen Kompositionen. Geigenstunden, die er zwischen 1991 und 1993 erhielt, konfrontierten ihn zum ersten Mal bewusst mit der Notenschrift. "Dadurch", erzählt er im Nachhinein, "eröffnete sich mir ein neuer Horizont." 1998 beseelte ihn die Idee, ein Requiem für die Opfer von Auschwitz zu schreiben, eine unüberhörbare Botschaft der Humanität, gegen menschliches Leid. Sein Denken und Tun kreisten um eine Totenmesse, die den Seelen aller Gemordeten und Geschundenen ein "lebendes Mahnmal" sein sollte.
In der nationalsozialistischen Diktatur wurden auch die Sinti und Roma verfolgt und getötet. Insgesamt 500.000 von ihnen fielen den NS-Schergen zum Opfer.. Viele Jahre mühten sich Repräsentanten von Roma-Organisationen um eine offizielle Anerkennung des Holocaust an dieser von den Nazis verfemten Minderheit. 1979 fand die erste internationale Gedenk-kundgebung im ehemaligen Konzentrationslager Bergen-Belsen zur Erinnerung hieran statt.
"Eine Mahnung an die Welt, Menschenleben und Menschenwürde zu achten, Glaubensüberzeugungen zu respektieren und Gerechtigkeit walten zu lassen", wie Moreno-Rathgeb die Intention des "Auschwitz Reqiuem" beschreibt. Eine Reise nach Auschwitz noch im selben Jahr verletzte ihn elementar und verursachte eine gravierende emotionale Blockade. Die Folge: Die Komposition blieb für Jahre unvollendet. Knapp zehn Jahre später appellierte das Internationale Gipsy Festival Tilburg an ihn, das Requiem zu vollenden. Professionelle Protagonisten der Musikszene, Komponisten und Dirigenten, darunter Sahiti, engagierten sich für das Werk. Die Uraufführung jetzt ist Abschluss und Krönung dieses Prozesses.
"Außerst schwierige Frage" der Sprache der Komposition
Intensiv und über einen langen Zeitraum setzte sich Moreno-Rahtgeb mit der Form der Komposition auseinander. Weder waren ihm, der zuvor Stücke in den Genres Jazz, Pop und Volksmusik geschrieben hatte, die Elemente der Klassik, noch die der kirchlichen Liturgie vertraut. Vor allem beschäftigte ihn die "äußerst schwierige Frage" der Sprache der Komposition. Deutsch, berichtet er, sei nicht infrage gekommen, weil es "kriminelle Deutsche waren, die jenen Wahnsinn angerichtet hatten".
Romanes, die Sprache der Sinti und Roma, wurde ebenfalls verworfen. Zu schwer wäre die Wahl eines Dialektes unter den vielen Varianten dieser Sprache geworden. Außerdem wollte Moreno-Rathgeb den möglichen öffentlichen Eindruck vermeiden, das Requiem sei ausschließlich den ermordeten Sinti und Roma gewidmet. Letztlich brachte ihn Übersetzungen der Partitur des "Requiem" von Giuseppe Verdi mit seinem lateinischen Text auf die zielführende Spur: "Lateinisch, weil diese Sprache nicht an ein Volk oder eine Nation gebunden ist." So folgt das Werk nun auch der klassischen liturgischen Form, vom "Kyrie" bis hin zum "Libera me".
Chance im Ringen gegen die Diskriminierung der Roma
Für Sahiti ist die erhoffte europaweite Aufmerksamkeit für das "Auschwitz Requiem" nichts Geringeres als eine historische Chance in dem Ringen, gegen die Diskriminierung der Roma anzugehen. "Sinti und Roma haben der Menschheit viel gegeben", hebt er hervor, "aber sie haben davon nur sehr wenig zurückbekommen." In der Tat ist der Beitrag der "Zigeunerweisen" aus ihren Anfängen im heutigen Ungarn zur europäischen Musikkultur, zum Kulturerbe unseres Kontinents unschätzbar und unverzichtbar.
Was wäre geeigneter als ein professionelles Sinfonieorchester aus der Gemeinschaft der Roma, die in der europäischen Mehrheitsgesellschaft verbreiteten Klischees über das Leben der "Zigeuner" im Allgemeinen und die "Teufelsgeiger" im Besonderen zu korrigieren? Besondere Brisanz verspricht dabei die Aufführung, die für den 6. November in Budapest vorgesehen ist. Geht doch die rechtskonservative Orban-Regierung besonders aggressiv gegen Roma-Gruppen in Ungarn vor. Ob auch dort Moreno-Rathgebs Credo der Humanität gehört werden wird?