"Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan" - durch den Glauben. Und: "Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan" - durch die Liebe. Mit diesen beiden kurzen Sätzen hat Martin Luther in seiner Schrift "Von der Freiheit eines Christenmenschen" beschrieben, "was ein Christenmensch ist und wie es um die Freiheit bestellt ist, die ihm Christus erworben und gegeben hat".
In seinem langen Leben hat Richard von Weizsäcker sich an dieser Grundregel orientieren und sie mit Leben erfüllen können.
Sein Lebensweg führte durch schwere Zeiten. Sieben Jahre lang hat er Soldat sein müssen. Erst dann konnte er unter den harten Bedingungen der Nachkriegszeit die Rechtswissenschaft an der Universität Göttingen studieren. Doch dank seiner hohen Begabung wurden ihm alsbald verantwortungsvolle Aufgaben in der freien Wirtschaft anvertraut. Durch berufliche Tätigkeit und waches politisches Interesse lernte er viele Menschen, die im öffentlichen Leben stehen, kennen. Das hatte zur Folge, dass man in zunehmendem Maß seine aktive Mitarbeit in ehrenamtlichen Funktionen erbat. Als an ihn die Anfrage erging, dem Deutschen Evangelischen Kirchentag als Präsident zu dienen, stellte er sich mit dem ganzen Einsatz seiner Person dieser Aufgabe, die von großer Bedeutung für die ganze evangelische Kirche ist. Als Forum, das zu offenen Diskussionen über aktuelle Probleme und Fragen des Glaubens dient, leistet der Kirchentag einen wirksamen Beitrag zur Ausbildung einer neuen politischen Kultur.
Seine Wirksamkeit im Kirchentag brachte für von Weizsäcker neue ökumenische Aufgaben, sodass er vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Weltrat der Kirchen aufnahm und sieben Jahre lang dem Exekutivausschuss des Weltkirchenrates angehörte. Dass Kirche für die Welt Mitverantwortung trägt, wurde als allgemeine Aufgabe erkannt. Doch war es zunehmend schwierig, die unterschiedlichen Meinungen zusammenzuhalten und zu gemeinsamem Handeln zu bringen.
Weizsäcker ließ sich nicht beirren
Als Präsident des Kirchentags konnte von Weizsäcker noch einer anderen, großen Aufgabe in Kirche und Gesellschaft dienen: der Verständigung mit Deutschlands östlichen Nachbarn. Mitte der sechziger Jahre hatte die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) eine Denkschrift über "Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn" veröffentlicht, die wie kaum eine andere Denkschrift große Aufmerksamkeit, leidenschaftliche Ablehnung, aber auch allmählich wachsende Zustimmung fand. Mit der Leitung der Evangelischen Kirche setzte sich von Weizsäcker mit Energie für die Aufgabe ein, zur Entspannung in Europa und zur Verständigung mit Polen beizutragen.
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Als wenige Jahre später die von Willy Brandt geleitete Bundesregierung Verhandlungen sowohl mit Polen wie auch der Sowjetunion erhofft hat, setzte sich von Weizsäcker im Bundestag mit Nachdruck dafür ein, dass wirksame Schritte zur Verständigung getan und anstehende vertragliche Vereinbarungen getroffen werden sollten. Ungeachtet starken Widerspruchs in seiner eigenen Partei - der CDU - ließ von Weizsäcker sich nicht beirren, sondern blieb standfest bei seiner christlich begründeten Überzeugung. So konnte er dazu helfen, dass nach harten Auseinandersetzungen die Ostverträge vom Bundestag angenommen wurden.
Nachdem sich die östlichen Gliedkirchen der EKD Ende der sechziger Jahre von der EKD lösen mussten und einen Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR begründet hatten, hatten die Kirchen in der Bundesrepublik ihren Ort neu zu bestimmen. Auf der Synode, die im Mai 1973 in Coburg stattfand, wurde ein neuer fünfzehnköpfiger Rat der EKD gewählt, der eine starke Verjüngung dieses kirchenleitenden Gremiums mit sich brachte. Von Weizsäcker und auch ich wurden zu Mitgliedern des Rates bestimmt. Von da an sind wir einander zwölf Jahre hindurch in jedem Monat für zwei Tage einer jeden Sitzung begegnet. Mit pünktlicher Genauigkeit nahm von Weizsäcker an nahezu allen Sitzungen teil, ohne sich durch seine wachsenden politischen Verpflichtungen an der Mitwirkung in der Leitung der Kirche behindern zu lassen.
Mit ruhiger Bestimmtheit wusste er zu anstehenden Fragen sein Urteil beizutragen und seine Stimme abzugeben. Dadurch konnte er wirksam dazu helfen, dass die Kirche ihrem genuinen Auftrag treu blieb und mit behutsamer Umsicht auch ein politisches Mandat wahrnahm.
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In jedem Jahr führte der Rat der EKD Gespräche zum Meinungsaustausch mit den Vorständen der großen politischen Parteien. Für diese Begegnungen war von Weizsäckers Urteil stets hilfreich und es war zu erkennen, welches persönliche hohe Ansehen er bei allen Parteien gewonnen hatte. Unterschiede der Parteien wusste er durch geduldige Argumentation zu überwinden und dem Wohl des ganzen Landes und aller seiner Bürger Priorität für politisches Handeln zu geben.
"Schauen wir, so gut wir es können, der Wahrheit ins Auge"
Nach den zwölf Jahren seiner Mitwirkung im Rat der EKD wandte von Weizsäcker seine Kraft politischen Aufgaben zu. Dabei handelte er stets in der Freiheit eines Christenmenschen, der sich aus seinem Glauben zum Dienst in der Liebe berufen weiß. Er wurde in hohe politische Ämter berufen, bis hin zum Amt des Bundespräsidenten, das er zwei ganze Amtsperioden hindurch mit beispielhafter Tatkraft versah - als ein Diener für jedermann aus der Liebe Christi.
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Als sich das Ende des großen Krieges zum vierzigsten Mal jährte, hielt von Weizsäcker im Bundestag am 8. Mai 1985 eine eindrucksvolle Rede. Dabei war deutlich zu erkennen, in wie starkem Maß er seine Argumentation auf vorangegangene Meinungsbildung in kirchlicher Verantwortung gründete. Unter Berufung auf eine alte jüdische Weisheit führte er aus, dass das Geheimnis der Erlösung Erinnerung heißt. Dieser Aufgabe dienend, folgerte er dann: "Der 8. Mai ist für uns vor allem ein Tag der Erinnerung an das, was Menschen erleiden mussten. Er ist zugleich ein Tag des Nachdenkens über den Gang unserer Geschichte. Je ehrlicher wir ihn begehen, desto freier sind wir, uns seinen Folgen verantwortlich zu stellen [...] Erinnern heißt, eines Geschehens so ehrlich und rein zu gedenken, dass es ein zu einem Teil des eigenen Innern wird. Das stellt große Anforderungen an unsere Wahrhaftigkeit." Wird Erinnerung in dieser Weise vollzogen, dann kann auch uns Deutschen der 8. Mai als ein Tag der Befreiung vor Augen stehen, der Befreiung von der Diktatur des Nationalsozialismus. Darum richtete der Bundespräsident an das ganze deutsche Volk die Bitte: "Schauen wir, so gut wir es können, der Wahrheit ins Auge."
Unsere evangelische Kirche blickt in respektvoller Dankbarkeit auf das reiche und volle Lebenswerk von Richard von Weizsäcker. Darum sei eingestimmt in den alten Gebetswunsch: "Er ruhe in Frieden, und das ewige Licht leuchte ihm."