Die drei Kugeln, die Ayhan Sürücü seiner Schwester Hatun am Abend des 7. Februar 2005 in den Kopf schoss, dienten dem eigenen Ansehen: Der Mord sollte die Ehre der kurdisch-türkischen Familie wiederherstellen. Doch er beendete nicht nur das Leben einer 23-jährigen Frau und raubte einem kleinen Jungen die Mutter, sondern riss auch mehrere Familien in den Abgrund. Die deutsche Öffentlichkeit war geschockt und fragte sich, welche Parallelgesellschaften da in ihrer Mitte entstanden waren.
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Nur wenige Tage nach der Tat nahm die Berliner Polizei Hatun Sürücüs Brüder Ayhan, Mutlu und Alpaslan fest. Im Juni klagte die Staatsanwaltschaft sie wegen gemeinschaftlichen Mordes aus niedrigen Beweggründen an. Der 26-jährige Mutlu soll die Waffe besorgt und der 25-jährige Alpaslan seinen Bruder Ayhan zum Tatort begleitet haben, lautete der Vorwurf. Geschossen hatte der erst 19-jährige Ayhan, der auch als Einziger ein umfassendes Geständnis ablegte und sich selbst schwer belastete.
Sein Motiv für die Tat war so einfach wie erschütternd: Hatun habe sich benommen wie eine Deutsche, erklärte der gebürtige Berliner Ayhan. Deshalb musste sie weg, um die Familienehre wiederherzustellen.
Raus aus dem Elternhaus und Kopftuch abgelegt
Hatun Sürücü war ein Freigeist, sie wollte sich nicht von Familienzwängen einengen lassen. Sie wuchs mit fünf Brüdern und drei Schwestern in Berlin-Kreuzberg auf. Als sie sich mit Beginn der Pubertät immer mehr gegen ihre Familie auflehnte, meldete ihr Vater sie nach der 8. Klasse vom Gymnasium ab und zwang sie zur Ehe mit einem Cousin in Istanbul. Hatun wurde schwanger, überwarf sich mit ihrem Mann und seiner strenggläubigen Familie und kehrte allein nach Berlin zurück, wo sie 1999 ihren Sohn Can zur Welt brachte.
Aber auch die elterliche Wohnung in Berlin war der lebenshungrigen jungen Frau zu eng. Sie zog noch im gleichen Jahr dort aus, legte ihr Kopftuch ab und fand in einem Wohnheim für minderjährige Mütter Zuflucht. In den folgenden Jahren holte sie ihren Hauptschulabschluss nach, bezog eine eigene Wohnung und begann eine Ausbildung als Elektroinstallateurin.
Zu ihrer Einbürgerungsfeier brachte sie ihren deutschen Freund mit, wie sich eine Freundin in einer RBB-Dokumentation von 2011 erinnert. Für die Familie sei das ein Affront gewesen. Hatun sei für sie zur Belastung geworden.
Sichtbare Grenzen eines rechtstaatlichen Verfahrens
Immer häufiger wird sie nun von ihren Brüdern bedroht, sie beschimpfen sie als "Schlampe" und "Hure". Aber nicht sie knickt ein, sondern ihr deutscher Freund. Er hält dem Druck nicht stand und trennt sich. Als die Drohungen der eigenen Familie immer deutlicher werden, wendet sich Hatun an Polizei und Jugendamt. Hilfe bekommt sie nicht. "Ehrenmord" kam im Denken deutscher Behörden damals nicht vor, erinnerte sich eine Jugendamtsmitarbeiterin in dem Film. Wenige Wochen später ist Hatun Sürücü tot.
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Im Prozess gegen die drei Brüder, der noch im gleichen Jahr begann, zeigten sich schnell die Grenzen eines rechtsstaatlichen Verfahrens, wenn es um archaische Ehrbegriffe geht: Richter und Staatsanwälte scheiterten an einem Kartell des Schweigens.
Nur die damalige Freundin Ayhans, Melek A., wagte auszubrechen. Erschüttert von der brutalen Hinrichtung Hatuns wurde sie zur Hauptzeugin der Anklage. In ihrer Aussage belastete sie die drei Brüder schwer und gab auch erschütternde Innenansichten aus der Sürücü-Familie preis. So soll diese sich vor der Tat in einer Berliner Moschee das "Okay" geholt haben, die eigene Tochter und Schwester zu töten, weil sie mitten in Deutschland zu westlich lebte.
Der Preis, den Melek A. und ihre Familie für diese Courage zahlten, ist hoch. Bis heute lebt sie gemeinsam mit ihrer Mutter im Zeugenschutzprogramm unter neuer Identität an einem unbekannten Ort - getrennt vom Vater und den Brüdern.
In der Türkei abgesetzt
Im April 2006 sprach das Landgericht Berlin die zwei älteren Brüder trotzdem frei. Die Aussagen von Melek A. seien nicht zuverlässig, weil sie vieles nur vom Hörensagen kannte, befand das Gericht. Der Jüngste, Ayhan, wurde nach Jugendstrafrecht wegen Mordes zu einer Haftstrafe von neun Jahren und drei Monaten verurteilt.
Ein Jahr später kassierte der Bundesgerichtshof die Freisprüche, aber es war zu spät: Alpaslan und Mutlu hatten sich in die Türkei abgesetzt, wo sie noch heute leben - gesucht mit internationalem Haftbefehl. Im Sommer 2014 folgte ihnen Ayhan, der nach Verbüßung seiner Strafe von den deutschen Behörden abgeschoben wurde.
Er zeige keinerlei Willen zur Integration in Deutschland, hieß es zur Begründung. "Ich war mit mir zufrieden, weil ich diesen Entschluss, den ich schon lange mit mir herumgetragen habe, endlich vollbracht habe", sagt Ayhan in der RBB-Dokumentation. Nach Reue klingt das nicht.