Selçuk Dogruer war auf der Rückfahrt vom Urlaub, als er am Mittwochnachmittag im Autoradio die Nachricht über den Anschlag in Paris hörte. "Was sind das für Menschen, die 'Allah ist groß' rufend um sich ballern und Menschen töten?" Diese Frage ging ihm als erstes durch den Kopf. "Was für ein Unheil", dieser Gedanke kam dem islamischen Theologen als nächstes. Wut sei in ihm aufgekommen, berichtet der in Frankfurt lebende Dialogbeauftrage der Ditib.
"Es ist nicht nur ein Anschlag, bei dem zwölf Menschen getötet wurden, und ein Anschlag auf die Meinungsfreiheit, sondern auch ein Anschlag auf uns Muslime und auf den Islam", sagt Dogruer. Vor dem Hintergrund der angeheizten Stimmung in Deutschland, in Europa und weltweit werde diese "unfassbare Tat" für weitere Polarisierung sorgen und somit dem achtungsvollen Zusammenleben sehr schaden.
Der sich sonst umsichtig ausdrückende Theologe wird diesmal deutlich in seiner Wortwahl: "Wer seine Kritik an etwas mit Töten vergilt, ist kein Muslim, sondern ein Idiot." Gewalt aufgrund von Meinungsunterschieden sei theologisch nicht begründbar und Vergeltung üben und Morden sei religiös "absolut nicht legitimiert", betont der islamische Theologe und weist auf eine Koran-Passage hin: "Wenn einer jemanden tötet ist es so, als hätte er alle Menschen getötet."
Töten sei nur im Falle zum Schutz des eigenen Lebens legitimiert. Dogruer verweist auf die Tradition der islamischen Mystik, nach der man denen, die Steine auf einen werfen, Rosen reichen solle.
"Die Theologie allein kann es nicht alleine schaffen"
Auf die theologisch begründete Selbstverteidigung weist auch Mouhanad Khorchide hin. "Man darf sich lediglich wehren", erklärt er. Die Praxis zeige aber, dass die, die ihre Gewalttaten aus dem Islam heraus begründeten, die Wirklichkeit entsprechend auslegten. "Sie meinen, sich im Krieg zu befinden und sich verteidigen zu müssen." Mouhanad Khorchide ist Leiter des Zentrums für Islamische Theologie und Professor für Islamische Religionspädagogik in Münster. Mit seinem Buch "Islam ist Barmherzigkeit" hat er Aufsehen erregt.
"Wir müssen uns den eigentlichen Problemen widmen und die Argumente der Täter entschärfen", sagt der Wissenschaftler. Die eigentlichen Probleme bringt Khorchide stichwortartig so auf den Punkt: marginalisierte und stigmatisierte Gruppen; junge Muslime, die Ausgrenzung erleben, von der Gesellschaft abgehängt werden und Kränkungen erleben; der Nahost-Konflikt. "Wenn wir als Europäer nicht demokratische Werte vermitteln, sondern vorrangig wirtschaftliche Interessen verfolgen und Menschen nach ihrem Nutzwert beurteilen, dann kommen wir nicht weit", sagt Khorchide.
###mehr-links### Er betont ausdrücklich, dass die Theologie allein es nicht schaffen könne, "Gewalt legitimierende Argumente zu entschärfen". Gefordert seien Politik, Wirtschaft und Gesellschaft gleichermaßen. "Es müssen Maßnahmen entwickelt und umgesetzt werden, um der Frustration von jungen Muslimen entgegenzuwirken und islamistischen Terroristen den Boden zu entziehen." Mehr Bildungsprogramme und Jobangebote für Schulabbrecher seien nötig und auch, "eigene Versäumnisse in der Nahostpolitik zuzugeben und kritisch zu überdenken".
"Sie schänden das Ansehen des Islam"
"Geschockt und niedergeschlagen": So beschreibt Professor Bekim Agai seine erste Reaktion auf die Meldung vom Angriff auf die Redaktion des Satiremagazins Charlie Hebdo. Wer die Täter sind, wer die Opfer und ob die Tat etwas mit Muslimen zu tun habe, diese Fragen stellte sich der Frankfurter Wissenschaftler erst nach und nach. "Als ich die Nachricht vernahm, war ich als Mensch und Bürger schockiert", sagt Agai.
Dieses barbarische Handeln stelle das Menschsein als solches in Frage. Das darauffolgende Reflektieren habe ihm bewusst werden lassen, dass dieser Terrorakt über die Getöteten hinaus auch Muslime treffe - "in doppelter Hinsicht", erklärt der geschäftsführende Direktor des Frankfurter Instituts der Kultur und Religion.
Warum die Mehrheitsgesellschaft von Muslimen erwarte, sich von Anschlägen zu distanzieren, die sich letztlich gegen den selbstverständlich gelebten Islam richteten, kann der Frankfurter Professor nachvollziehen - auch wenn es Muslime oft überfordere, weil das Töten im Namen Gottes für sie undenkbar ist und sie die Islambezüge in der Rechtfertigungsstrategie der Täter nicht nachvollziehen können.
Den Tätern seien wohl die Konsequenzen und die Wirkung ihres Handelns für die Muslime insgesamt nicht klar oder "in verquerer Weise eben schon". Denn mit ihren Morden hätten sie niemanden und nichts gerächt, sondern den Weg für die nächsten Opfer gebahnt - nämlich die Muslime. Es sei davon auszugehen, auch vor dem Hintergrund der antiislamischen Stimmung in Europa und Deutschland, dass Muslime die nächsten Leidtragenden sein werden, Muslime, die in demokratischen Gesellschaften lebten und sich für diese Gesellschaften engagierten.
"Die Muslime profitieren von einem freiheitlichen Europa"
"Die Täter haben zwölf Menschen getötet, das ist ein unfassbares Verbrechen; gleichzeitig haben sie aber auch das geistige Benzin verteilt für Brandanschläge auf Moscheen", so Agai. Der Anschlag sei auch ein Anschlag auf diejenigen Muslime Europas gewesen, "die ihre Zukunft hier sehen, die hier leben, arbeiten, zur Schule gehen, Vereine gründen, Jugendarbeit machen und am Ende hier begraben werden wollen, weil es ihre Heimat ist".
Ein Anschlag wie dieser sei auch ein Anschlag auf ein Miteinander, das stattfindet und das Islamfeinde und Terroristen, die sich auf den Islam berufen, gleichermaßen nicht wollten.
Was sind die theologischen Fundamente von radikalen Ideen? Was die Argumente der dschihadististischen Terroristen? Wie lassen diese sich theologisch entkräften? Diesen Fragen hat sich nach Ansicht von Professor Agai islamische Theologie in Deutschland unter anderem zu stellen, "um islamische Antworten für das Leben hier und in Europa zu entwickeln". Letztlich gehe es auch darum, die Komplexität von Freiheit zu vermitteln und diese auch innerislamisch zu kommunizieren.
"Unsere Aufgabe ist es, zu vermitteln, dass die Freiheit des anderen manchmal auch eine Zumutung für einen selbst ist und dass wir alle, insbesondere die Muslime, trotzdem für eine Freiheit für alle einzutreten haben, eben weil die Muslime von einem freiheitlichen Europa selbst auch profitieren."