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Filmkritik: "Wild Tales - Jeder dreht mal durch!"
Die Kunst der Kettenreaktion: Damián Szifróns Episodenfilm über die alltägliche Eskalation der Gewalt wird als heißer Kandidat auf den Auslands-Oscar gehandelt und weltweit als Indiz für die erzählerische Wucht des argentinischen Kinos gefeiert.
07.01.2015
epd
Gerhard Middin

Es ist verführerisch, diese "Wild Tales", also "wilden Erzählungen" hochzurechnen auf eine Bestandsaufnahme des heutigen Argentinien. Episodenfilme erwecken ja gern den Eindruck des Enzyklopädischen, des Panoramablicks. Gewiss wird nicht jede Alltagsbegegnung in Buenos Aires gleich in Mord und Totschlag enden. Aber Damián Szifrón sammelt genug Indizien, damit der Zuschauer zum Urteil gelangt, diese Gesellschaft sei mächtig aus den Fugen geraten.

Zorn ist die Triebfeder dieser sechs raffiniert konstruierten Miniaturen, deren Endreim zumeist die Vergeltung ist, die aber stets noch eine unvorhergesehene Wendung nehmen und damit den moralischen Gewissheiten den Boden entzieht. Gleich in der ersten Episode, noch vor dem Vorspann wird der Zuschauer unwiderruflich entsichert. Flugpassagiere müssen feststellen, dass sie sich allesamt auf Einladung eines Mannes in der Maschine befinden, dem sie in der Vergangenheit übel mitgespielt haben.

In der nächsten Episode erkennt eine Kellnerin unter ihren Gästen den Kredithai wieder, der ihren Vater in den Selbstmord trieb. In der dritten Geschichte eskaliert ein Überholmanöver, in der vierten setzt sich ein Sprengmeister gegen bürokratische Willkür zur Wehr, in der fünften soll Bestechung helfen, damit der fahrerflüchtige Sohn eines Industriemagnaten ungestraft davonkommt. Im letzten Segment schließlich gerät eine Hochzeitfeier aus dem Ruder, als die Braut die Untreue ihres Mannes entdeckt.

Ohne Rücksicht auf Verluste

Ungerechtigkeit, soziale Differenz und Korruption sind die Auslöser dieser filmischen Kettenreaktionen. Szifróns Figuren ziehen die Welt zur Rechenschaft, ohne Rücksicht auf Verluste. Die Dramaturgie der Verheerungen ist schlüssig, nie käme man auf die Idee, die Konflikte hätten einen anderen Verlauf nehmen können. Der Vorspann ließ schon erahnen, dass sich der Firnis der Zivilisation in den folgenden zwei Stunden als verstörend dünn erweisen wird. Die Idee des Menschenmöglichen erweitert "Wild Tales" um ungekannte Facetten des Makabren.

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Den Zuschauer versetzt die Kaskade der Geschehnisse in ein Wechselbad der Reaktionen: Komplizenschaft, Schadenfreude und Schrecken lösen einander ab. Unweigerlich fiebert er der Schlusspointe entgegen. Szifróns erzählerisches Vergnügen an der kathartischen Entladung der Gewalt erschöpft sich dabei nicht im Zynismus. Die Widerhaken, die er in die gesellschaftlichen Verhältnisse schlägt, weisen ihn als würdigen Erben einer filmischen Anarchie aus, wie sie etwa die italienischen Komödien der 60er Jahre praktizierten.

Argentinien/Spanien 2014. Regie und Buch: Damián Szifrón. Mit: Ricardo Darín, Liliana Ackerman, Luis Manuel Altamirano Garcia. Länge: 122 Minuten. FSK: 12