"Ich sehe die Behinderung auch als meine größte Gabe – als ein Geschenk", sagte der amerikanische Professor Jonathan Kaufmann auf dem Zukunftskongress "Inklusion 2025" Anfang Dezember in Berlin. Zum Anlass ihres 50. Jubiläums hatte die Aktion Mensch eingeladen, sich zwei Tage lang mit Inklusion und Zukunftsfragen auseinanderzusetzen.
In seinem Eröffnungsvortrag sagte Kaufmann, der an den Folgen einer zerebralen Kinderlähmung leidet, auf Grund seiner Behinderung habe er gelernt, strategisch zu denken, Probleme zu lösen und ausdauernd zu sein. Seine Behinderung sei damit kein Nachteil, sondern sein größtes Kapital in einer komplexen Welt. Kaufmann führt die Beratungsfirma Disability Works in New York und hat bereits die Vereinten Nationen, die Obama-Regierung und die amerikanische Filmindustrie beraten.
Er argumentierte, dass die Gesellschaft die besonderen Fähigkeiten von Menschen mit Behinderung brauche. Als Beispiel führte er an, dass am renommierten Massachusetts Institute of Technology 60 Prozent der Studenten mehr oder weniger starke Formen von Autismus hätten. Ihre Fähigkeiten würden gerade den heute so wichtigen Feldern Mathe, Informatik, Naturwissenschaft und Technik zu Gute kommen. "Wir haben etwas zu geben", sagte er den Zuhörern, unter denen sich viele Menschen mit Behinderung befanden.
Eine Gruppe, die Vielfalt verkörpert
In neuen technischen Entwicklungen und sozialen Medien sieht Kaufman Mittel, mit denen man sich unabhängig von seiner Behinderung ausdrücken, körperliche Grenzen überwinden und sich einbringen könne. Wie die SMS zuerst unter Gehörlosen benutzt wurde, so seinen Behinderte oft die ersten Nutzer ("early adopter") neuer Technologien, die sich dann verbreiten.
###mehr-links###
Er betonte auch, dass Menschen mit Behinderung eine große Wirtschaftskraft seien. In Europa hätten 15 Prozent der Bevölkerung eine Behinderung. Weltweit betrachtet seien Behinderte die größte Minderheit der Welt. Eine Gruppe, die Vielfalt verkörpert, weil sie unabhängig von Nationalität, Geschlecht und Sexueller Orientierung bestehe und der "jeder jederzeit beitreten könne", so Kaufmann.
Elisabeth Wacker, die an der TU München Diversitätssoziologie lehrt und Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirats des Bundesteilhabeberichts ist, plädierte gegen verordnete Inklusion und dafür, die Gesellschaft solle "ein Ganzes werden aus freien Stücken". Es sei "nicht in Ordnung Menschen passend zu machen für Leistungen, nur weil diese Leistungen gerade vorgehalten werden", sagte sie, und kritisierte, dass zu viele Ressourcen in ein System fließen würden, das man überprüfen müsse.
Menschen mit Behinderung mehr zuhören
Einige Ideen zogen sich durch den Kongress: Die Gesellschaft solle sich nicht über eine Norm definieren, von der Menschen mit Behinderung abweichen. Stattdessen solle sie anerkennen, dass sie längst aus sehr unterschiedlichen Menschen besteht, unabhängig davon, was diese können oder woher sie kommen. Ebenso sollten auch Behinderte nicht als einheitliche Gruppe betrachtet werden. Angebote und Förderung sollten sich nicht nur an eine Zielgruppe mit derselben Behinderung richten, wie an Blinde oder geistig Behinderte. Stattdessen sollte jeder Mensch mit seinen Potentialen und Grenzen wahrgenommen werden. Wichtigstes Schlagwort war die Barrierefreiheit, also der ungehinderte Zugang zu allem, von technischen Geräten bis zu Restaurant-Eingängen.
Am Nachmittag diskutierten die Teilnehmer in Gruppen zu "Arbeitsleben und Unternehmensentwicklung", "Bildungschancen und Lebensweggestaltung" oder "Technologieentwicklung und digitale Kommunikation". Es ging darum, was es für Menschen mit Behinderung bedeutet könnte, wenn die Arbeitswelt immer spezialisierter wird und einfache Tätigkeiten von Maschinen übernommen werden. Wenn durch die technische Entwicklung Menschen mit mehr und mehr Hilfsmitteln ausstatten werden können, bis die Grenzen zwischen Mensch und Maschine verschwimmen. Wenn die Bevölkerung altert und zu immer größeren Teilen in Städten lebt.
Unter anderem wurde diskutiert, wie sich die Gesellschaft verändern müsste und was nötig wäre, damit Inklusion tatsächlich umgesetzt werden kann. Dazu gehört, dass Menschen mit Behinderung viel stärker als bisher als Experten in ihrer Sache gehört werden, statt nur auf wissenschaftliche Meinungen zu vertrauen. Ganz im Sinne des amerikanischen Slogans "Nichts über uns ohne uns". Menschen mit Behinderung müssten in die Lage versetzt werden, für sich selbst einzustehen und Inklusion sollte nicht nur von der Politik, sondern auch von Menschen in konkreten Situationen angestoßen werden.
"Inklusion ist ein Prozess, der nie enden wird"
Statt zum Beispiel ein behindertes Kind einfach in eine Regelschulklasse zu schicken, müssten die Eltern der Mitschüler informiert werden, welche Behinderung das Kind hat und was sie beinhaltet. Die Teilnehmer sahen die Abgrenzung von Behinderten durch Sonderschulen und Behindertenwerkstätten sehr kritisch, hielten aber ebenfalls wenig davon, Förderschulen überstürzt aufzulösen, ohne auf die Wünsche der Schüler zu achten. Wenn Inklusion so umgesetzt werde, sei es kein Wunder, dass Eltern sich dagegen wehren. "Wir haben kein Erkenntnisdefizit, wir haben ein Umsetzungsdefizit", sagte der Psychologe und Autor Mark Terkessidis.
Was die Kosten für die Inklusion betrifft, so sei nicht das Problem, dass es nicht genug Geld gebe, sondern dass es zu einseitig eingesetzt werde. Michael Löher, Vorstand des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge schlug vor, verschiedene Förderprogramme miteinander zu verbinden. Wenn zum Beispiel Häuser energetisch saniert würden, könne man sie auch behindertengerecht umbauen. Die Demografieexpertin Christiane Schwager erklärte, die alternde Gesellschaft biete das Potential, dass für sie neue Technik und Wohnformen entwickelt würden, die dann auch behinderten Menschen zu Gute kämen.
"Inklusion ist kein Zustand, den wir erreichen werden, sondern ein Prozess, der wahrscheinlich nie enden wird", hatte Armin von Buttlar, Vorsitzender der Aktion Mensch, zu Beginn des Kongresses gesagt. Seine Einschätzung eignete sich auch als Schlusswort.