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Wie Christus euch angenommen hat
Eine Auslegung zur Jahreslosung aus Römer 15,7
"Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zu Gottes Lob." So lautet die Jahreslosung für 2015, ein ermahnender Vers aus dem Brief des Paulus an die Römer (Kapitel 15, Vers 7). Was meinte der Apostel damals und was kann die Losung für uns heute bedeuten?

Die Jahreslosungen sollen mal ermutigen oder trösten, mal aufrütteln oder provozieren. Nachdem der Psalmvers "Gott nahe zu sein ist mein Glück" (Psalm 73,28a) im vergangenen Jahr eher Wohlgefühl verbreitete, geht es dieses Jahr "um die Konsequenz aus der Gottesbeziehung", so formuliert es Wolfgang Baur, katholischer Theologe und Vorsitzender der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen (ÖAB), die die Jahreslosungen wählt. "Losung heißt nicht nur, dass du ein nettes Wort bekommst, das dich tröstet, sondern auch mal ein Wort, das dich herausfordert und eine Aufgabe anzeigt", sagt Baur. Dieses Jahr also eine Herausforderung: "Nehmt einander an!"

Als der Apostel Paulus um das Jahr 55 nach Christus seinen Brief an die Römer verfasste, wollte er damit sein theologisches Grundsatzprogramm vorstellen. In den Kapiteln 14 und 15 behandelt er ein Sonderproblem: den Umgang der Christen miteinander in der Gemeinde. Es gab Auseinandersetzungen zwischen "Starken" und "Schwachen" (Kapitel 15, Vers 1) beziehungsweise zwischen Heidenchristen und Judenchristen (vgl. auch 1. Korinther 8-10). Das Christentum war aus dem Judentum entstanden, doch in die christlichen Gemeinden kamen auch Menschen, die vorher nicht jüdisch waren. Die Frage war nun: Inwieweit musste man sich als Christ an jüdische Gesetze halten? Für Paulus waren die "Schwachen" diejenigen, die sich an alten Regeln festklammerten, anstatt sich – wie die "Starken" – in dem neuen Glauben frei zu fühlen.

Es gibt kein "richtig" oder "falsch"

"Nehmt einander an", der erste Teil des Verses, meint deswegen: Hackt nicht aufeinander herum, wenn andere ihren Glauben und ihr Leben anders gestalten als ihr selbst. Macht es für euch ruhig anders, aber fühlt euch deswegen nicht als bessere Christen. Der Zusammenhalt der Gemeinde ist wichtiger, als bestimmte Prinzipien durchzusetzen. Das Verb, das hier im Griechischen steht, proslambano, kann übersetzt werden mit "annehmen" oder auch "in seine Gemeinschaft aufnehmen", "Gemeinschaft miteinander halten". Zur Gemeinschaft der Christen gehören alle gleichermaßen – egal, ob sie vorher Juden oder Heiden waren. Wenn Paulus schreibt: "Nehmt einander an", meint er gegenseitig. Die Starken sollen die Schwachen annehmen – und umgekehrt! Wer Regeln braucht (also "schwach" ist), soll ebenso akzeptieren, dass andere (die "stark" sind) ohne diese Regeln leben.

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"Wie Christus euch angenommen hat", im zweiten Teil des Verses kommt Paulus ohne Umschweife zum Grund seines Glaubens: Christus. Der Apostel nimmt in seinen Briefen immer wieder Bezug auf den Gekreuzigten (hier in Vers 3). Am Kreuz hat Jesus sich in die Position leidender und verachteter Menschen hineinversetzt. "Einander annehmen wie Christus..." kann also heißen: Die Perspektive eines anderen einnehmen – eine Art Seitenwechsel. Mit den Augen des anderen in die Welt schauen, auch wenn das unbequem ist. Nur so ist es möglich, wirklich nachzufühlen, wie es dem anderen geht, wie sich sein Leben anfühlt.

Auch nach den Erzählungen der Evangelien ergreift Jesus immer wieder Partei für die, die nicht zur Gemeinschaft dazugehören, und stellt sich an ihre Seite. Er spricht die bloßgestellte Ehebrecherin frei (Johannes 8,1-11), gibt sich einer lebensdurstigen und einsamen Frau als Messias zu erkennen (Johannes 4,1-42) und lässt sich von einer hartnäckigen Ausländerin davon überzeugen, dass er nicht nur zu den Juden gesandt ist (Matthäus 15,21-28).

Und wenn wir die anderen wären?

Sämtliche Regeln, mit wem man zu tun haben "darf" und von wem man sich besser fernhält, setzt Jesus außer Kraft. Er sortiert nicht, wer zur Gemeinschaft dazugehört und wer nicht, sondern nimmt die Menschen an. Er lässt sie an sich heran und wagt selber mehr Nähe, als damals üblich war: Jesus setzt sich an den Tisch des betrügerischen Zöllners Zachäus (Lukas 19,1-10). Er heilt einen Taubstummen mit so engem Körperkontakt, dass es persönliche Grenzen überschreitet, "legte ihm die Finger in die Ohren und berührte seine Zunge mit Speichel" (Markus 7,31-37). Er lässt eine "unreine" Frau an sich herankommen und schenkt ihr seine Kraft (Lukas 8,43-48).

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Als Lesende dieser Geschichten lohnt es sich zu überprüfen, welche Perspektive wir dabei spontan einnehmen: etwa die der Ehebrecherin, der Ausländerin, der Abgelehnten, des Behinderten, des Betrügers? Oft bleiben wir auf der Zuschauerseite, lassen die Figuren der Geschichten die "anderen" sein, so wie wir auch im Alltag Menschen selbstverständlich als die "anderen" einsortieren. Doch was wäre, wenn wir selbst die "anderen" wären und der Annahme bedürften? "Wie Christus euch angenommen hat" ist eine Aufforderung zum Seitenwechsel, und dafür müssen wir uns öffnen, Gefühle mitteilen, Schwäche zulassen. Genauso, wie wir uns näher an Menschen heranwagen müssen. "Einander annehmen" funktioniert nur, wenn wir bereit sind, die Perspektiven zu tauschen und so einander zu verstehen.

"Wie Christus euch angenommen hat" – das Wort "wie" kann man hier durchaus nicht nur als Vergleich, sondern auch als Begründung lesen. Weil Christus sich so zu euch verhält, sollt ihr euch gegenüber euren Mitmenschen auch so verhalten. Wer im Herzen verstanden hat und glauben kann, dass er selbst vorbehaltlos geliebt wird, sollte deswegen in der Lage sein, andere anzunehmen.

Ganz aktuell und trotzdem zeitlos

"Zum Lob Gottes" (oder auch: zu seiner "Ehre") lautet der dritte Teil der Losung. Worauf der Satzteil sich bezieht, ist nicht eindeutig. Entweder auf Christus und sein Werk, das er zur Ehre Gottes tat, oder auf die Adressaten des Briefes: Nehmt einander an, damit ihr dadurch Gott die Ehre gebt. Vielleicht formuliert Paulus absichtlich so zweideutig – es kann ruhig beides gelten. Wolfgang Baur von der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft Bibellesen sieht eher den zweiten Aspekt: "Warum sollen wir andere annehmen? Nicht aus Eigennutz, um uns darzustellen, sondern aus Dankbarkeit und Freude, dass wir selbst angenommen sind." 

"Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat zum Lob Gottes." Der Vers scheint in unsere Zeit zu passen: Deutsche, nehmt Flüchtlinge an – sie haben Schweres erlebt! Konservative Christen, nehmt gleichgeschlechtliche Paare an – ihre Liebe ist kostbar! Katholiken, nehmt Protestanten an – jeder Glaube ist aufrichtig! Und das alles nicht nur in die eine Richtung, sondern eben auch umgekehrt.

Dass sich der Vers so aktuell in die kirchliche und gesellschaftliche Themenlage einfügt, findet Wolfgang Baur "auf der einen Seite überraschend". Denn die Jahreslosungen werden jeweils vier Jahre im Voraus ausgewählt – da wussten die Mitglieder der ÖAB noch nicht, welche Debatten sich zum Jahr 2015 hin entwickeln würden. "Auf der anderen Seite sind ja die Losungen Kernworte", sagt Baur, "sie enthalten existenzielle Wahrheiten. In dieser Losung geht es um die Aussage, dass Menschen angewiesen sind auf andere, um die Suche nach Halt. So werden die Losungen immer wieder passen."