Der Münsteraner Islamwissenschaftler Mouhanad Khorchide ist Mitherausgeber des neuen "Handbuch Christentum und Islam in Deutschland", ein profundes Nachschlagewerk in zwei Bänden nicht nur für theologisch Interessierte. Religionen haben die Aufgabe, die moderne plurale Gesellschaft mit spezifisch religiösen Werten wie Spiritualität und Herzensbildung zu bereichern, sagt er: "Wer den Islam nur als Gesetzesreligion versteht im Sinne eines Kodex von Erlaubten und Verbotenen und Gesetzen bis hin zu Körperstrafen, der bereichert Europa damit nicht", sagt Khorchide.
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Khorchiche ist bekannt für sein Konzept eines Islams der Barmherzigkeit. Allah ist für den Münsteraner Islamwissenschaftler kein strenger Herrschergott, der Unterwürfigkeit verlangt, sondern ein Gott der Liebe. Daher müsse sich auch der muslimische Glaube immer daran messen lassen, ob er zum gedeihlichen Miteinander beiträgt oder nicht. Es gehe um sie bedingungslose Zuwendung und das Leben islamischer Spiritualität im Alltag.
"Das heißt, man kann nicht Menschen verachten, sie entwürdigen und behaupten, damit komme ich Gott näher", sagt Khorchide. "Wir brauchen das Kriterium der bedingungslosen Zuwendung. Das schützt uns vor einem Missbrauch des Islam. Spiritualität als Entfaltung des Göttlichen im Menschen ist nicht einfach beliebig. Jeder behauptet sonst, ich entfalte gerade das Göttliche in mir. Ich muss mich fragen, wie weit bereichere ich meine Mitmenschen?"
Khorchide ist fest davon überzeugt, dass dieser persönlich gelebte spirituelle Glaube mehr Herzenswärme in eine Gesellschaft bringen kann. Denn Muslim sei man gerade auch am Arbeitsplatz, im Bus, beim Einkaufen. Bei jeder Interaktion und Kommunikation habe ein Muslim den Auftrag, das Göttliche zu entfalten. "Das Gebet oder der Besuch in der Moschee sind nur die Räume, wo man die innere Batterie auflädt, wenn man sich intensiv Gott zuwendet, in sich hinein geht. Aber die wahren Räume der Entfaltung von Religiosität sind die Räume, die uns im Alltag begegnen", sagt Khorchide.
Moscheen sollten aber nicht nur Räume des Gebets und der Einkehr, sondern auch der Diskussion sein. Es gehe um die Bildung einer eigenen Meinung und eben nicht um das Delegieren von Entscheidungen an Rechtsgelehrte oder Theologieprofessoren oder andere vermeintliche Vorbilder. Die Reflexion der eigenen Position sei letztlich auch der beste Schutz gegen jede Form von Extremismus.
"Welche Muslime lesen wirklich im Koran und verstehen und reflektieren exegetische Bücher? Gerade in Internet, auf YouTube, gibt es selbst ernannte Gelehrte. Da braucht man nur ein Hemd und Hose und irgend so einen Turban, ein bisschen böse dreinschauen und ein paar arabische Worte, und schon sind sie für die Jugendlichen Gelehrte geworden", beklagt Khorchide.
Die Scharia ist hochkomplex und flexibel
Der ursprünglich aus Palästina stammende Theologe ist Verfechter der Demokratie, auch aus theologischen Erwägungen. Dass unter Muslimen immer wieder diskutiert wird, in wieweit die Scharia nun auch in Deutschland gelebt und befolgt werden muss, und danach erst das Bürgerliche Gesetzbuch, ist für ihn unverständlich. Denn gerade Muslime müssten sich für die universalen Werte der Menschenrechte einsetzen.
Mitherausgeber Matthias Rohe, Direktor des Erlanger Zentrums für Islam und Recht in Europa (EZIRE) an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, hat sich in dem Lexikon explizit mit der Scharia auseinandergesetzt. "Die Scharia ist genau das Gegenteil von einem Gesetzbuch. Es ist ein hoch komplexes und flexibles System von Normen, Interpretationen und Methoden", sagt Rohe.
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Es sei durchaus möglich, auf der Basis des deutschen Rechts Vorstellungen zu leben, die letztlich von der Scharia her inspiriert seien, zum Beispiel islamisches Investment. Dort werde Geld eben nicht in Alkoholproduktion, Schweinemast oder Pornografie investiert. "Der Bundesgerichtshof hat schon islamisch inspirierte Eheverträge akzeptiert, in denen vereinbart wird, dass die künftige Ehefrau eine bestimmte Summe Geld bekommen soll, auch im Falle einer möglichen Scheidung. Dagegen ist nichts zu sagen. Es ist sinnvoll etwa bei gemischtnationalen Paaren, die bald in ein islamisch geprägtes Land ziehen werden", sagt Rechtsexperte Rohe.
Das Vorwort zu dem Handbuch hat der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff geschrieben, der sich bekanntermaßen mit seinem Ausspruch, dass der Islam ein Teil von Deutschland sei, klar positionierte, aber auch Kritik einhandelte. Insgesamt ist das Handbuch ein gelungenes Kompendium aktueller Fragen zum Zusammenleben von Christen und Muslimen.