"Die Evangelische Kirche muss sich verändern und weiten, damit Gemeinschaft auch in virtuellen Räumen gelebt werden kann", heißt es in der Kundgebung, die die Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland am 12. November in Dresden beschlossen hat. Und weiter: "Die Digitalisierung der Gesellschaft führt dazu, dass durch digitale Räume neue Formen von Gemeinde entstehen. Nicht physische Nähe, sondern Kommunikation ist für sie wesentlich." Dass tatsächlich Gemeinde in der endgültigen Fassung des Textes steht, ist nicht selbstverständlich. Denn manche waren damit nicht einverstanden, zum Beispiel Medienbischof Ulrich Fischer: "Die personale Kommunikation ist konstitutiv für Gemeinde", sagt er. Menschen müssten sich Face to Face treffen - mit Bildschirm und Tastatur dazwischen ist es für ihn nicht dasselbe.
Versammlung mit Gefühl
Für viele Protestanten hat die Ortsgemeinde einen hohen Stellenwert: Hier feiern Christen sonntags ihren Gottesdienst, beten miteinander und erfahren Seelsorge. Hier fühlen sich die Christen eines Ortes miteinander verbunden und bilden die Gemeinde. In welcher Weise es Gemeinde auch im Internet geben kann, blieb auf der Synodentagung trotz der positiven Formulierung in der Kundgebung letztlich offen, und der Rat der EKD wurde gebeten, das theologisch zu klären.
Praktisch ist die Frage schon klar: Längst gibt es Gottesdienste im Internet (Beispiele in der Infobox rechts oben), an denen Menschen nicht Face to Face, sondern via Computer teilnehmen. Sie schauen und hören über Lautsprecher dem Livestream zu und tippen Anmerkungen zur Predigt oder eigene Gebete ein. Außerdem gibt es Seelsorge-Chats, Bibelkreise, Diskussionen – und sogar ein Abendmahl im Netz wurde schon mindestens einmal ausprobiert. Allerdings sehen, hören, fühlen, riechen die Teilnehmenden einander nicht, können sich nicht die Hände schütteln und nicht in die Augen schauen. Das ist wichtig, aber nicht entscheidend.
Bei der Frage, ob eine Gemeinde im Internet diese Bezeichnung verdient, schauen Theologen als erstes in das Augsburger Bekenntnis von 1530. Dort steht in Artikel 7, was die Kirche (ecclesia) ist, nämlich "die Versammlung aller Gläubigen, bei welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente dem Evangelium gemäß gereicht werden". Gemeinde ist demnach da, wo Gottesdienst gefeiert wird, und für drei zentrale Begriffe muss geprüft werden, ob sie auch im Internet funktionieren: Versammlung, Predigt und Sakramente.
Der katholische Theologe Stefan Böntert schlägt vor, Versammlung nicht räumlich zu verstehen, sondern als Beziehungsbegriff: Gemeinschaft entstehe dadurch, dass Menschen miteinander kommunizieren. In seinem Buch "Gottesdienste im Internet" (Stuttgart 2005) beschreibt Böntert neue "Gemeindeorte" im Internet, "in denen die relationale Bezogenheit göttlicher Liebe und die solidarische Gemeinschaft der Menschen Gestalt werden wollen. [...] Es kann folglich auch von einem ekklesialen Miteinander in der Versammlung im Internet gesprochen werden […]." Manche mögen einwenden, dass digitale Kommunikation Gefühle ausschließt, die ja für Beziehungen wichtig sind. Man sieht kein Lächeln, spürt keinen Händedruck, bemerkt keine Träne bei den anderen. Doch das folgende Zitat von Pfarrer Heiko Kuschel über eine von ihm gehaltene Webandacht belegt, dass auch in getippten Worten Gefühle zum Ausdruck kommen können: "Ein Großteil der Andacht bestand aus Klagen, Bitten, Gebeten, die die Teilnehmenden selbst formulierten. Dafür war Platz und Zeit, und alle achteten aufeinander. Wunderschön."
Predigen klappt - Essen und Trinken nicht
Für Martin Luther war der evangelische Gottesdienst in erster Linie Kommunikation. 1544 weihte er die neue Kirche in Torgau zu dem Zweck, "… dass nichts anderes darin geschehe, als daß unser lieber Herr selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort und wir umgekehrt mit ihm reden durch unser Gebet und Lobgesang". Wichtig sind nicht mehr – wie in der katholischen Messe – Rituale und Formeln, sondern die Kommunikation zwischen Menschen und Gott, die sich im Predigen und Zuhören, Singen, Bekennen und Beten realisiert. Evangelischer Gottesdienst bedeutet Verständigung, und die funktioniert nicht nur Face to Face, sondern auch über Mikrophon und Lautsprecher, Bildschirm und Tastatur. Der Münsteraner Theologe Christian Grethlein machte in seinem Referat auf der Synodentagung darauf aufmerksam, dass es schon Jesus von Nazareth um wechselseitiges Senden und Empfangen, Lehren und Lernen ging. Das Evangelium werde "nach Einsicht der Evangelisten und Apostel interaktiv und damit ergebnisoffen kommuniziert". Solche interaktive Kommunikation lässt sich im Internet besonders gut verwirklichen, indem die Teilnehmenden per Chat mitpredigen und -beten.
Bleibt die Frage nach den Sakramenten. Kann man online taufen und Abendmahl feiern? Nein, kann man nicht. Denn Sakramente bestehen aus Wort und Symbol, und weder Wasser noch Brot und Wein können durch Glasfaserkabel und W-LAN übermittelt werden. Auch nicht die Gemeindeglieder selbst – und sind beim Abendmahl Bestandteil des Symbols: "Es geht um die Essgemeinschaft als Heilsgemeinschaft, um den Vorgang des gemeinsamen Essens und Trinkens", schreibt der Theologe Karl-Heinrich Bieritz. Essen und Trinken sind nun einmal an den Körper gebunden, und eine Tischgemeinschaft an verschiedenen Computern ist nicht möglich. Noch etwas kommt dazu: Luther war es sehr wichtig, dass beim Abendmahl jedem Einzelnen persönlich mit Brot und Wein "für dich gegeben" zugesprochen wird. Auch das geht nicht, wenn der Pfarrer bloß in eine Kamera spricht. Ebensowenig kann man einem Täufling aus der Entfernung die Hand auflegen und den Segen zusprechen, ganz zu schweigen vom Taufwasser.
Gemeinde um den ganzen Erdkreis
Das heißt also: Versammlung ist im Internet möglich, Predigt auch, Taufe und Abendmahl aber nicht. Ist nun die Online-Versammlung eine vollwertige Gemeinde, wenn sie kein Abendmahl feiern und nicht taufen kann? Medienbischof Fischer sagte in Dresden: "Ich in der Meinung, zur Gemeinde gehört konstitutiv das Miteinander von Wort und Sakrament." Damit befindet er sich auf einer Linie mit dem Theologen Ingolf U. Dalferth, der sich 1985 in seinem Aufsatz "Kirche in der Mediengesellschaft - quo vadis?" zu Fernsehgottesdiensten äußerte und meinte, es müsse "auch der bloße Wortgottesdienst jederzeit so beschaffen sein, daß er Sakramentsfeier sein könnte". Deswegen müssten die Teilnehmenden immer körperlich anwesend sein.
Übrigens: Gemeinde bedeutet schon nach dem Neuen Testament viel mehr das, was vor Ort und Face to Face stattfindet, auch darauf weist Christian Grethlein hin: Das griechische Wort ekklesia meint mal die Ortsgemeinde (Apostelgeschichte 15,41), mal die gesamte Christenheit (Matthäus 16,18). "Kirche" findet zum Beispiel auch in der Schule, in den Familien, in diakonischen Einrichtungen statt - warum ausgerechnet nicht in den Medien? Um Christen rund um den Globus miteinander zu vernetzen, bietet das World Wide Web Möglichkeiten, von denen Paulus und Luther nicht einmal geträumt haben. Durch das Internet kann die Gemeinde weltweit miteinander kommunizieren und feiern.