Foto: REUTERS/Damir Sagolj
Gewalt in Kambodscha: "Eltern behandeln Kinder wie Vieh"
Sie werden geschlagen, vergewaltigt und ausgebeutet. Eine Studie hat nun alarmierende Zahlen über Gewalt gegen Kinder in Kamboscha geliefert. Hilfe bekommen die Kinder selten: Die Polizei ist bestechlich, staatliche Hilfen kommen kaum an und viele Menschen schauen den Misshandlungen tatenlos zu. Doch manchen Jugendlichen gelingt ein Neuanfang.

Die Szene ist schrecklich. Am helllichten Tag wird auf offener Straße in Phnom Penh ein Kind grausam misshandelt. Auf dem Bürgersteig kampiert eine Obdachlosenfamilie mit zwei Kindern. Eingewickelt in Lumpen schläft ein Baby. Daneben liegt ein nackter, etwa 18 Monate alter, wimmernder Junge auf dem Boden. Ein Mann schlägt und tritt auf den zitternden Jungen ein, peitscht ihn mit einem abgerissenen Zweig, an dem noch grüne Blätter sind. Die Tuk-Tuk-Fahrer auf der anderen Straßenseite lachen. Die Frauen von der Garküche ein Haus weiter schauen traurig zu. Das westliche Touristenehepaar in dem Straßencafé nebenan zieht um ins Innere des Cafés. Niemand kommt dem gequälten Kind zu Hilfe.

Misshandlungen von Kindern gehören zum Alltag in Kambodscha. Mehr als die Hälfte aller kambodschanischen Kinder und Jugendlichen sind vor ihrem 18. Lebensjahr körperlicher Gewalt ausgesetzt. Jeder Fünfte erleidet seelische Grausamkeiten und fünf Prozent werden Opfer sexueller Gewalt. Jungen sind durchschnittlich jünger als Mädchen, wenn sie zum ersten Mal Opfer sexueller Gewalt werden: Während zwei Drittel der sexuell missbrauchten Jungen höchstens 13 Jahre alt waren, sind drei Viertel der betroffenen Mädchen zwischen 16 und 17 Jahre alt.

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Die Zahlen stammen aus einer im Oktober veröffentlichten gemeinsamen Studie vom Kinderhilfswerk UNICEF, dem US Centres for Disease Control and Prevention (CDC) und kambodschanischen Behörden. "Der Missbrauch findet oft in Umgebungen statt, in denen Kinder sich am sichersten fühlen sollten, nämlich zu Hause, in der Schule oder im Haus von Nachbarn", sagte Marta Santos Pais, UN-Sonderbeauftragte zu Gewalt gegen Kinder, bei der Präsentation der Studie.

Sie ist Teil einer internationalen Datenerhebung über Gewalt gegen Kinder, die UNICEF und CDC bereits in afrikanischen Ländern und in Haiti durchgeführt hatten. Neun Länder in Asien und der pazifischen Region haben bereits Interesse an ähnlichen Studien bekundet. Kambodscha ist das erste Land der Region, in dem diese Untersuchung durchgeführt wurde.

Geld für sexuelle Gefälligkeiten ernährt die Familie

Sie zeigt auf, welche weiteren Auswirkungen Gewalt gegen Kinder haben kann. Viele Opfer haben Selbstmordgedanken, leiden unter psychischen Problemen und werden mit sexuell übertragbaren Krankheiten infiziert. Auch im Kontakt mit anderen werden einige Kinder ausgegrenzt: "Gewalterfahrung kann - besonders bei Fällen sexueller Gewalt - zu einer sozialen Stigmatisierung der Kinder und ihrer Familien führen", heißt es in der Studie.

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Zudem warnen die Autoren vor den volkswirtschaftlichen Kosten. Gut ein Prozent des Volkseinkommens müsse für den Kampf gegen Gewalt gegen Kinder ausgegeben werden. "Das Geld fehlt für andere soziale Projekte."

Die Täter kommen fast immer aus dem sozialen Umfeld der Kinder. Es sind Eltern, Verwandte, Freunde, Geschwister und Lehrer, bei sexueller Gewalt zusätzlich auch Pädophile. Socheat Nong, die für die Studie Kinder interviewt hat, erinnert sich an einen Jungen, der mit zwölf Jahren sexuell missbraucht worden war. "Als ältestes Kind musste er schon zum Lebensunterhalt seiner sehr armen Familien in einer abgelegenen ländlichen Region von Kambodscha beitragen.

Eines Tages saß er am Strand, als ihn Mann ansprach und zu sich ins Hotel einlud. Der Junge dachte, der Mann wollte einfach sein Freund sein", sagt die Sozialarbeiterin und fährt fort: "Der Junge weinte, als er mir das erzählte. Er schämte sich dafür, dass sexuelle Ausbeutung ihm das Geld einbrachte, das er für seine Familie benötigte. Irgendwann konnte er sich davon freimachen und Hilfe suchen. Manchmal hat er noch heute Alpträume. Seiner Familie hat er das nie erzählt."

Wer zahlen kann, darf Anzeige erstatten

Die Studie räumt laut UNICEF auch mit "Mythen" über sexuelle Gewalt auf. Zum Beispiel mit dem Gerücht, dass Jungen davon eher nicht betroffen seien, wenn doch, seien sie stark genug, sich zu wehren. Auch die Annahme, die Täter seien häufig Ausländer und/oder Homosexuelle bestätigt die Studie nicht. In einigen Fällen sind Frauen die Täter. Selten werden die Fälle von Gewalt öffentlich. Frauen, so die Studie, hielten es für "unangemessen", über sexuelle Themen zu sprechen. Viele der Jungs gaben an, es sei "nicht akzeptabel, Klatsch über Erwachsene zu verbreiten".

Bonvirak Horn arbeitet als Leiter eines Netzwerkes von HIV-positiven Kambodschanern. Manche von ihnen waren als Kinder oder Jugendliche Opfer von Missbrauch. "Kaum jemand traut sich, Gewalt und Missbrauch anzuzeigen. Die Polizei nimmt Anzeigen nur gegen Bestechungsgelder entgegen. Opfer sexueller Gewalt müssen zudem befürchten, als Täter festgenommen zu werden. Die Polizei missbraucht dafür Gesetze gegen Menschenhandel", weiß Virak. Er erzählt, dass der Staat zwar soziale Hilfen bietet, diese aber kaum bei den Bedürftigen ankommen. "Soziale Hilfen nutzen den Wohlhabenden, die die Beamten bestechen, nicht aber den Armen."

Neuanfang aus eigener Kraft

Nur wenige schaffen es, aus eigener Kraft der Gewalt zu entfliehen. Einer davon ist Vanna Hem. "Mein Vater war gewalttätig", erzählt Vanna. Niemand in seinem Dorf in der Provinz Kampong Chhnang sei ihm zur Hilfe gekommen. "Den Leuten ist das egal. Vor allem auf dem Land behandeln viele ihre Kinder wie Vieh. Irgendwann hatte ich genug und bin von zu Hause weg."

Vanna Hems Filme sollen zum Umdenken anregen.

Heute ist der 31-Jährige ein angesehener Dokumentarfilmer, dessen Filme die Geschichten von Opfern sexueller Gewalt und von Menschenhandel erzählen. Sein erster Film, den er im Auftrag einer Hilfsorganisation drehte, handelte von Kinderrechten. Inzwischen hat Vanna Filme über die Diskriminierung von Schwulen, Transsexuellen und Menschen mit HIV gedreht. "Ich mache nur Filme über Themen, die mich interessieren und die in meinem Umfeld passieren. Ich will, dass sich in meinem Land etwas ändert", betont der Dokumentarfilmer.

Täter haben selbst unter sexueller Gewalt gelitten

Auch die Studie über Gewalt gegen Kinder von UNICEF, CDC und der kambodschanischen Regierung will dazu beitragen, dass sich was ändert. "Sie wird eines Tages als Wendepunkt bei den nationalen Anstrengungen gesehen werden, die Gewalt in Kambodscha anzugehen", glaubt Rana Flowers, UNICEF-Repräsentantin in Kambodscha. "Die Untersuchung bietet zum ersten Mal Informationen zu diesem Thema. Jetzt müssen Taten folgen."

Es wird jedoch ein langer Prozess werden, die Gewalt gegen Kinder in Kambodscha zu reduzieren. Denn auch das haben die Forscher herausgefunden: Die meisten Täter waren in ihrer Kindheit selbst Opfer von Gewalt.

Die Tortur des kleinen Jungen auf der Straße in Phnom Penh wird auch von der Cafébesitzerin beobachtet. Auch sie verhält sich passiv. "Wenn ich eingreife, werden sie sich rächen", sagt die Kambodschanerin. "Sie kommen in der Nacht und lassen ihren Ärger an meinem Geschäft aus."