Trauer
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Dem Tod begegnen: zwei Hände halten zum Abschied eine Kerze im Dunkeln.
Sterben und Trauer: Ein Vaterunser am Totenbett
Die Hospizpastorin Heide Brunow begleitet Sterbende und ihre Angehörigen im Hospiz des Diakonie-Krankenhauses Hamburg-Volksdorf. Im Gespräch mit unserer Autorin Mechthild Klein erläutert sie, welche Situationen auf Sterbende und Angehörige zukommen können und warum es Sinn macht, letzte Fragen nicht erst auf dem Sterbebett anzusprechen.

In Ihrem Hospiz werden die Sterbenden als Gäste angesprochen - ein Hinweis auf den Aufenthalt auf Zeit?

Heide Brunow: Gast-Sein bringt zum Ausdruck, dass die Wünsche und Bedürfnisse des Sterbenden im Vordergrund stehen. Und das Gast sein auf Erden findet hier tatsächlich seinen Abschluss. Wenn ein Mensch stirbt, wird er auf dramatische Weise mit der eigenen Endlichkeit oder der des Partners, der Eltern oder Freunde, manchmal auch des Kindes konfrontiert. Das kann das ganze Leben und die Sinnhaftigkeit auf den Kopf stellen.

Können Angehörige noch im Sterbeprozess ungeklärte Fragen ansprechen?

Brunow: Jeder Sterbeprozess ist anders, aber offene Fragen können in der Abschiedsphase noch einmal eine große Rolle spielen, manchmal als Störung, weil alte Verletzungen noch im Raum stehen, sehr oft auch als Chance. Klärungen können sowohl von einem Angehörigen ausgehen; aber auch der Sterbende hat vielleicht das Bedürfnis. Am Ende des Lebens sind viele Menschen bereit, sich auszusöhnen, gnädiger auf zurückliegende Irritationen zu schauen. Manchmal wird Sterbenden auch eher bewusst, was sie jetzt noch brauchen und wünschen und mit wem sie aber auch keinen Kontakt mehr wollen.

Der Sterbende möchte ja mit seinem Leben gut abschließen können. Schuldgefühle, eine vernachlässigte Kindheit - vieles wird gerade jetzt noch einmal angeschaut, betrauert und manchmal geschieht tatsächlich Aussöhnung: So war mein Leben. Wünschenswert ist es, wenn wir uns in solchen Klärungsprozessen schon vor unserem Sterben einüben.

Was macht es den Angehörigen so schwer, den geliebten Menschen sterben zu lassen?

Brunow: Es ist dieses Endgültige. Das Leben auf Erden endet unwiederholbar! Die Angehörigen sind dann allein, Dinge können nicht mehr geklärt oder besprochen werden. Häufig spielt der Sterbende ja im Leben des Angehörigen eine tragende Bedeutung. Wenn dieses Fundament durch den Tod ins Wanken gerät, ist der Angehörige in seinen Grundfesten erschüttert.

Viele Angehörige pflegen zudem bis zur eigenen Erschöpfung den Partner oder die Eltern. Die Nerven sind dann dünn. In dieser Phase können völlig überraschend heftige Familienstreitereien entstehen, die sehr emotional verlaufen. Zum Beispiel darüber, was das Richtige für Menschen ist, der bald sterben wird.

"Jeder Mensch geht unterschiedlich mit Krisen um"

Was kann man tun, um so etwas zu verhindern?

Brunow: Ganz verhindern lässt es sich wohl nicht. Es kann aber hilfreich sein, sich darüber klar zu werden: Jeder Mensch geht unterschiedlich mit Krisen um. Der eine neigt zu Aktionismus, ein anderer ist wie gelähmt und ein dritter meidet die Situation und flieht. Wenn wir ein gegenseitiges Verständnis haben, dass alle unter der gleichen Bedrohung und Verlustangst leiden, dann kann hier eine Solidarität entstehen. Sterbebegleitung ist eine Ausnahmesituation und manchmal kann Unterstützung von außen die Energie von Machtkämpfen und gegenseitigen Schuldzuweisungen in konstruktive Bahnen lenken. 

Vieles hängt auch von bestehenden Gewohnheiten in einer Familie ab. Wie reden sie miteinander? Wie kommen sie zu Ergebnissen, die sie miteinander tragen können, was sind die alten Rollen und können sie sich jetzt so verändern, dass es hilfreich ist?
Und als Hospizpastorin sehe ich es auch als meine Aufgabe an, Familien in diesen Prozessen zu unterstützen. Auch hier lohnt es sich die Gesprächskultur in der Familie schon rechtzeitig zu pflegen.

Warum empfinden manche Menschen nach dem Tod des Angehörigen Erleichterung und dann wiederum Schuldgefühle?

Brunow: Das kann ganz unterschiedliche Gründe haben. Oft sind die Angehörigen schon lange über ihr eigenes Limit gegangen und am Ende der Kräfte, wenn der Angehörige oder beispielsweise die Partnerin stirbt. Die Erleichterung ist dann nachvollziehbar und zugleich schleichen sich Schuldgefühle ein. Hätte man noch mehr machen können, ist die Erleichterung nicht unangemessen?

"Schuldgefühle sind in der Trauer einfacher zu ertragen, als Schmerz und das Gefühl von Ohnmacht"

Die renommierte Trauerbegleiterin Chris Paul hat festgestellt, dass Schuldgefühle in der Trauer einfacher zu ertragen sind, als der Schmerz und das Gefühl von Ohnmacht. Mit der Schuld kann man sich einreden, dass der Tod einen erklärbaren Grund hat. Schuldzuweisungen gegenüber anderen (einem Arzt, einem Pfleger, einem anderen Verwandten) oder Selbstvorwürfe sind erträglicher, als der Schmerz, die Fassungslosigkeit und Sinnlosigkeit, die wir angesichts des Todes empfinden.

Was ist ein gutes Sterben, ein guter Tod und wie geht man mit der Angst um?

Brunow: Gutes Sterben? Ich würde eher von einem würdigen Sterben reden wollen, das  entsprechend den Bedürfnissen des Sterbenden und seiner Zugehörigen geschehen kann. Hierzu gehört, dass es einen guten Ort gibt, der frei von allzu großen Überforderungen ist. Durch die Hospizbewegung ist hier viel geschehen, sowohl im stationären wie auch im häuslichen Bereich. Hierzu gehört, dass der Sterbende und die Menschen, die zu ihm gehören, Raum erhalten für ihre inneren Prozesse. Ängste gehören sicherlich dazu und sollten ernst genommen werden. Ich erlebe sehr oft, dass Sterbende und ihre Angehörigen diesen Weg mit großer Würde gehen.

Was sieht eine gute Sterbebegleitung aus?

Brunow: Dazu gehört für mich Symptomkontrolle (Linderung von Schmerzen, Übelkeit und Atemnot - Anmerkung der Redaktion) und auch psychosoziale und spirituelle Begleitung. Es ist wünschenswert, dass es einen würdigen Rahmen gibt und gute medizinische und pflegerische Zuwendung, aber auch einen Raum, in dem Angst, Not und Trauer sein dürfen, die zum Sterbeprozess dazugehören.

Für mich hat die Hoffnung einen großen Wert, dass es auch im Sterben eine Entwicklung gibt, in der der Mensch irgendwann sagen kann: Ich bin bereit. Auch Fragen, wo komme ich her, wo gehe ich hin, warum war manches so schwer, was mache ich damit, dass Schuld eine Rolle spielt, Fragen, warum Gott das zulässt oder auch das Bedürfnis der göttlichen Zusage, sollten in der Begleitung beachtet werden. Und nicht zu vergessen sind die Familienangehörigen und Freunde, die in der Begleitung die wichtigste emotionale Bedeutung haben.

Manche Menschen sterben gerade dann, wenn keiner der Angehörigen da ist, das löst mitunter große Schuldgefühle bei den Hinterbliebenen aus.

Brunow: Ja, das begegnet uns immer wieder. Wir bereiten Angehörige im Hospiz auf diese Möglichkeit vor; denn es kann hilfreich sein zu wissen, dass der Sterbende diese Freiheit braucht und es sehr häufig geschieht. Das kann vielleicht entlasten.

"Bei der Aussegnung sprechen viele Menschen von Dankbarkeit und Liebe"

Als Hospizpastorin helfen Sie auch den Abschied vom Toten zu gestalten. Was gibt es für Rituale in der evangelischen Kirche?

Brunow: Wir nennen das Ritual die Feier einer Aussegnung, so wie sie auch in anderen Konfessionen zu finden ist. Sie findet am Totenbett statt und wird oft in Gegenwart von Familie und Freunden durchgeführt. Ich spreche mit der Familie ab, was sie sich wünschen. Manchmal wird ein Lied gesungen oder ein Psalm gesprochen. Bei einem Kerzenritual kann jeder seine Gefühle und Gedanken in dieser Situation symbolisch oder auch mit Worten ausdrücken. Meistens hört man hier Dankbarkeit und Liebe. Immer spreche ich einen Segen für den Verstorbenen, der ihn in die Ewigkeit begleitet. Dazu kommen das Vaterunser sowie ein weiterer Segen für die Lebenden, die nun ohne den Verstorbenen ihren Weg weitergehen werden. 

Wie möchten Sie sterben?

Brunow: Oh, darüber mag ich gar nicht so recht spekulieren, da ich weiß, wie viele Gesichter der Tod hat. Aber vielleicht so viel: Ich möchte nicht in die Fänge der Intensivmedizin geraten, sofern es nicht eine wirklich gute Heilungschance gibt. Ich wünsche mir gute Symptomkontrolle und einen geborgenen Rahmen, der auch meine Angehörigen unterstützt. Ich hätte gern soviel Zeit, um Abschied zu nehmen, von meinem eigenen Leben und von den Menschen, die zu mir gehören.