Es war eine nachdenkliche und leise Feier in der Dresdner Kreuzkirche. Keine Rede von Stolz auf das, was Christen in den Jahren und Monaten vor dem Fall der Mauer in Dresden und anderen Städten in der DDR geleistet hatten, dafür aber mahnende Worte.
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Mehrere Dresdner erzählten im Gottesdienst, was sie mit dem 9. November 1989 verbinden, dem Tag, als in Berlin die Mauer fiel. Annemarie Müller zum Beispiel erfuhr davon erst tags darauf in der Schlange beim Bäcker. Stefan Theile, ein Junge aus dem Kreuzchor, war am 9. November 1989 noch nicht auf der Welt: "Offene Grenzen sind für mich ganz selbstverständlich" sagte er, und dass die Erzählungen von damals in seinem Ohren klingen wie "eine Geschichte aus ziemlich alter Zeit". Umso beeindruckender das Statement von Senta Gruner-Günschel, die über 90 Jahre alt sein muss und zuerst über den 9. November 1938 (!) sprach – froh allerdings, dass sie dann auch 1989 erleben durfte. "Revolutionen ereignen sich dann wenn die 'oben' nicht mehr können und die 'unten' nicht mehr wollen", sagte sie treffend. Die Geschichte des sich vereinigenden Deutschlands bekam Gesichter an diesem Morgen in der Dresdner Kreuzkirche.
Annemarie Müller hatte an der "Ökumenischen Versammlung" 1988 in Dresden teilgenommen, von deren Abschlussgottesdienst beindruckende Bilder eingeblendet wurden, in schwarz-weiß aus derselben Dresdner Kreuzkirche, aber in Wirklichkeit war es bunt: Sie hatten sie ein Netz aus farbigen Fäden geknüpft, in der Kirche aufgespannt und dazu "Der Himmel geht über allen auf" gesungen. "Damals im April hat keiner gedacht, dass die Mauer so bald fallen würde", sagt Müller heute. Und Elke König, die den 8. Oktober in Leipzig erlebte, sprach von den großen Gefühlen damals: "Es ist etwas Neues möglich. Die Kraft der Kerzen und der Gebete wurde für uns spürbar."
Für Christen zählt nur die Hoffnung
Eine Kraft, so wurde im Evangelium (Lukas 17, 20-24) und in der Predigt von Landesbischof Jochen Bohl deutlich, die nach christlichem Glauben nicht aus den Betenden selbst kam. "Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man's beobachten kann", sagte Jesus laut Lukasevangelium zu den Pharisäern, "das Reich Gottes ist mitten unter euch". Der Superintendent von Dresden Mitte, Christian Behr, der als Liturg durch den Gottesdienst führte, griff diesen Gedanken auf: "Wir können das Reich Gottes nicht selber erschaffen." Das war auch Landesbischof Jochen Bohl in seiner Predigt über die "Kinder des Lichtes" (1. Thessalonicher 5, 4-6) wichtig: Dass sie die friedliche Revolution damals nicht selbst gemacht haben.
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Zwar waren die Kirchen damals "die einzigen Institutionen in der Gesellschaft der DDR, die sich dem Druck des diktatorischen Staates zu widersetzen", sagte Jochen Bohl und sprach von Friedensgebeten und offenen Kirchentüren, wieder untermalt von historischen Filmaufnahmen aus dem Jahr 1989. "Kinder des Lichtes" seien die Christen damals gewesen, doch nicht etwa als "Lichtgestalten, die dem irdisch-verworrenen enthoben wären, denen das Schwere von vornherein leicht ist, das nicht". Im Gegenteil: "Das Christenleben wird gelebt in dieser Welt, in der Hell und Dunkel ineinander übergehen", sagte Bohl, und ihre Berufung gelte "nicht etwa besondere Fähigkeiten, die andere nicht hätten". Sondern einzig und allein aufgrund der Hoffnung. Hoffnung auf Frieden und Freiheit, Hoffnung auf die Kraft der Gebete, Hoffnung auf den Auferstandenen. Dazu seien Christen berufen – heute wie damals.
Das Licht scheint auch durch den Bildschirm
"Seid wachsam und nüchtern", heißt es im Predigttext aus dem 1. Thessalonicherbrief, und auch diese Ermahnung machte Bohl für unsere Zeit geltend. Noch immer leben Christen zwischen dem Dunklen und dem Hellen, noch immer ist das Reich Gottes noch nicht für alle Menschen Wirklichkeit: "Da sind die furchtbaren Verbrechen des 'Islamischen Staates' in Syrien und Irak, der nicht endende Konflikt im Heiligen Land, der nahe Krieg in der Ostukraine, die politische Krise der EU; da ist die Frage, wie wir den Flüchtlingen, die zu uns kommen helfen und mitmenschlich handeln können", zählte Bohl auf. Sich zurücklehnen ist keine Option. Sondern glauben, hoffen, beten und helfen. "Wachsam und nüchtern sollen wir in der Zeit stehen", mahnte Jochen Bohl. "Erst die Hoffnung lässt den Blick klar werden für die Gerechtigkeit, die ein Volk erhöht (Sprüche 14,34) – auch das gilt, bis der Herr kommt", beendete er seine Predigt.
Während die Gemeinde in der Dresdner Kreuzkirche das Abendmahl feierte, mochten Fernsehzuschauer sich wohl fragen, ob sie denn nun – durch den Bildschirm von der Festgemeinde getrennt – auch dazugehören zu den "Kindern des Lichtes". Doch der scheidende EKD-Ratsvorsitzende Nikolaus Schneider nahm mit dem Aaronitischen Segen, nach einem kurzen Zögern (also live!) mit viel Herzenswärme in die Kamera gesprochen, sofort jeglichen Zweifel. "Er lasse sein Angesicht leuchten über dir…" – die Segensworte wirken trotz der Technik, die dazwischengeschaltet ist. Und die leuchtende Sonne über Dresden und Berlin an diesem besonderen Sonntag tut ihr übriges.