Wenn in diesen Wochen zahlreiche Dokumentationen an die Revolution in der DDR erinnern, die in Städten wie Leipzig buchstäblich mit den Füßen losgetreten wurde, dann steigen in Jens Spangenberg viele Bilder und Emotionen aus seinen Kindheits- und Jugendjahren hoch. Der aufmüpfige Jugendliche erlebte damals mit, wie sich die Kirchen ab Mitte der achtziger Jahre in seiner Stadt immer mehr füllten und zu Kraftzentren des deutschen Pazifismus wurden. Mit dabei waren auch kirchenferne Leuten, die gegen den SED-Staat opponierten.
Spangenberg selbst wurde evangelisch-lutherisch getauft, doch in seiner Ausbildungszeit zum Maschinen- und Anlagemonteur war er mit Freunden unterwegs, die aus sämtlichen Subkulturen stammten, die es damals gab: mit langhaarigen Typen, Skinheads und Punks. Jens Spangenberg war mittendrin in dieser Aufbruch-Bewegung, die im revolutionären Wende-Herbst mündete.
Filmreife Flucht in den Westen
Im September 1989 wollten viele nur noch raus aus dem implodierenden SED-Staat. Etliche flüchteten in die bundesdeutschen Botschaften in Prag, Budapest und Warschau. In Jens Spangenbergs Freundeskreis hatte zu dieser Zeit fast jeder einen Ausreiseantrag gestellt. Auch er selbst hatte das graue Land schon seit Mitte der achtziger Jahre satt. "Paris sehen, die ägyptischen Pyramiden, dann sterben", beschreib er seine damalige fatalistische Stimmung. Bereits im März 1989 flüchtete der damals Langhaarige unter lebensgefährlichen Umständen über Ungarn und die jugoslawische Grenze in den Westen. "Eine Teilstrecke musste ich sogar durch einen Fluss schwimmen. Es war wie in einem Film", erinnert er sich.
Im Sommer 1989, als das Volk dem Honecker-Staat den Rücken kehrte, landete der Leipziger in Hannover bei einem Freund. Den Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989 erlebte er in Hannover vor dem Fernseher. "Ich wäre gern live dabei gewesen, zusammen mit meinen Freunden", sagt er heute. Innerlich war er zerrissen: "Einerseits war ich froh, dass es den SED-Staat nicht mehr gab, andererseits verschwand mit der DDR auch meine Heimat endgültig von der Landkarte."
In Hannover nahm er bei Volkswagen als Maschinen-Anlage-Monteur eine Stelle an. Er verdiente gut und erfüllte sich alle materiellen Wünsche. Der Neubundesbürger reiste zu den weltweit schönsten Destinationen, doch Erfüllung fand er nicht. Er suchte nach etwas anderem in seinem Leben. Nach fünf Jahren schmiss er alles hin und sattelte um auf Krankenpfleger.
Beim Wandern den Katholizismus entdeckt
1998 ging Jens Spangenberg in die Schweiz, wo zu dieser Reise intensiv nach Pflegekräften gesucht wurde, und begann im Kantonspital Luzern zu arbeiten. Die guten Kontakte zu den Krankenhausseelsorgern ließen in ihm den Entschluss reifen, einmal selbst als Seelsorger tätig zu sein. Auf langen, einsamen Spaziergängen in den Bergen entdecke er nicht nur Gott neu, sondern auch die katholische Kirche. "Ob auf der Rigi, dem Pilatus oder auf den Wanderwegen rund um den Vierwaldstättersee – überall stieß ich hier auf Kreuze, Kapellen und Votivtafeln. Das kannte ich aus der DDR nicht."
Der Leipziger studierte Religionspädagogik und vertiefte sich danach an den Universitäten Luzern und Chur in die katholische Theologie. "Neue Welten gingen in mir auf. Es stellte sich eine Begeisterung darüber ein, die sich bis heute nicht gelegt hat." Spangenberg konvertierte später auch zum Katholizismus.
Beruflich und privat fand er sein Glück an den Gestaden des Vierwaldstättersees. Heute arbeitet der 49-jährige als Pastoralassistent in der katholischen Pfarrei St. Theodul in Littau. Seine Frau, die er während des Theologiestudiums kennen gelernt hat, ist Religionslehrerin in Meggen. Spangenberg ist fasziniert von der Kirche in der Schweiz. Er schwärmt von der geerdeten Spiritualität der Menschen und von der Lebendigkeit der Vereine und Gruppen in den Pfarreien. Besonders beeindruckt ist der Ostdeutsche von der Nähe der Bischöfe zur Kirchenbasis und von der ausgeprägten Streitkultur. "Das kannte ich zuvor in dieser Weise nicht", betont er.
Ob gestrandete Bootsflüchtlinge in Italien, syrische Flüchtlinge an den Grenzen der Türkei oder in anderen Krisenregionen: Als ehemaliger DDR-Bürger spürt er, wo sich in der heutigen Gesellschaft neue Grenzen – auch unsichtbare – auftun. So ging ihm das Ergebnis der Massen-Einwanderungsinitiative seelisch nahe. Spangenberg, der sich als Deutscher in der Schweiz seine Außensicht bewahrt hat, sagt: "Wenn man die Ängste der Menschen hier ignoriert, kommt es zu solchen Resultaten." Er selbst empfindet tiefe Dankbarkeit gegenüber seinem Gastland Schweiz, das ihm die Chance gab, neue Freunde zu finden und seiner Berufung nachzugehen.
Die Gemütlichkeit der "Kaffeesachsen"
25 Jahre Wende und Mauerfall – jetzt tauchen sie im Fernsehen wieder auf, die Aufnahmen von flüchtenden DDR-Bürgern. Jens Spangenberg sagt: "Die Bilder und Ereignisse aus diesen Monaten haben mich tief geprägt. Das Jahr 1989 ist unauslöschlich in mir eingebrannt."
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Diese zeitgeschichtlich bedeutsamen Ereignisse laden Augenzeugen wie ihn zur Rückschau auf die eigene Biographie ein. Jens Spangenberg sagt von sich, er habe mit dem Sozialismus, der freien Markwirtschaft und der Volkskirche schweizerischer Prägung im Grunde drei "Gesellschaftssysteme" kennen gelernt.
Was vermisst er an der DDR? Es nennt die besondere Art von Gelassenheit und Gemütlichkeit, die den Sachsen eigen sei. "Nicht umsonst nennt man uns Kaffeesachsen", lacht Spangenberg, der Gruppenreisen in seine alte Heimat organisiert. Weiter nennt er den starken Zusammenhalt unter Gleichgesinnten in der DDR, den er in dieser Form später nie wieder erlebt habe.