"Was ich bin, verdanke ich der ADHS, meiner Frau und Gott", sagt Arno Backhaus (Jahrgang 1950). Unkonventionell und stets für eine Überraschung gut, bringt der Sozialarbeiter, Liedermacher, Bestsellerautor, Aktionskünstler und "E-fun-gelist" seit vielen Jahren die frohe Botschaft ins Gespräch – und freut sich, wenn er dabei die Lacher auf seiner Seite hat und Menschen humorvoll ins Nachdenken bringt.
Als Kind und Jugendlicher hatte Arno Backhaus durchaus nicht viel zu lachen. Er blieb drei Mal sitzen, flog von viermal von der Schule und war auf dem besten Weg "erfolgreich" kriminell zu werden. Die Ursache dafür, dass er leicht ablenkbar, impulsiv, wenig ausdauernd, stimmungslabil, chaotisch, zerstreut, unruhig und aggressiv war, lag in seiner AufmerksamkeitsDefizitStörung in ihrer hyperaktiven Form (ADHS).
Kreativ und chaotisch
Aber diese Diagnose kannte damals kaum jemand. Und noch weniger wusste man, dass sie in der Ausprägung des überaktiven "Zappelphilipp" (ADHS) oder des verträumten "Hans Guck in die Luft" (ADS) vorkommt – wobei Jungen zwei bis viermal häufiger als Mädchen betroffen sind.
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Arno wurde ständig ermahnt, zurechtgewiesen, bestraft, auch geschlagen. "Ich bekam immer ein Nein. Irgendwann hatte ich das Gefühl: "Ich bin verkehrt." Sein Selbstwertgefühl sank unter null. Das änderte sich erst, als er sich als 16-jähriger "probeweise" – wie er sagt – dem christlichen Glauben zuwandte und später seine Frau Hanna kennenlernte. Die liebte den kreativen Chaoten und konfrontierte ihn gleichzeitig kompromisslos mit seinem Verhalten. Gemeinsam und nicht ohne Konflikte gelang es, feste Strukturen und Alltagsrituale in Arnos "Leben auf dem Sprung" einzubauen.
Während man früher überzeugt war, ADHS wachse sich beim Erwachsenwerden einfach aus, erlebte Arno Backhaus: "ADHS geht nicht weg. Sie bleibt lebenslang – auch als Erwachsener." Studien gehen davon aus, dass AD(H)S bei 30 bis 60 Prozent der Betroffenen aus dem Kindesalter ins Erwachsenenalter übergeht. Dass er selbst "Betroffener" ist, wurde Arno Backhaus erst klar, als bei seinem Sohn Fabian die Diagnose ADHS gestellt wurde.
Was ist die Ursache?
Ein Medikament wie zum Beispiel das bei Kindern und Erwachsenen häufig verordnete Ritalin (Wirkstoff: Methylphenidat), das den bei Betroffenen veränderten Dopaminstoffwelchsel reguliert, will Arno Backhaus dennoch nicht nehmen. "ADHS übersetzte ich anders als üblich. Für mich heißt es: "Auch du hast Stärken", lacht er.
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"Alles, was die Leute an mir schätzen, verdanke ich meiner ADHS. Die macht mich zwar leichter ablenkbar, aber weil ich mich selbst nicht auf langen Filme oder Bücher konzentrieren kann, schaffe ich es, Sachverhalte kurzweilig zu verpacken. Dank meiner ADHS bin ich energiegeladen, kreativ, experimentierfreudig, risikobereit und unterhaltsam", urteilt Arno Backhaus. Allerdings: "Ohne meine Frau und Freunde, die mir immer wieder Rückmeldung geben, käme ich wohl kaum zurecht."
Dabei ist Arno Backhaus nicht grundsätzlich gegen medikamentöse Behandlung. "Medikamente können helfen, aber nicht heilen", ist seine Erfahrung. Die heftig entbrannte Debatte darüber, warum das Gehirn von AD(H)S-lern "anders tickt", ob es dafür in erster Linie genetisch bedingte Ursachen gibt oder ob die vermeintliche "Störung" durch eine bewegungsarme Kindheit mit zu viel Medienkonsum und ein nicht kindgerechtes Schulsystem verursacht wird, mag er nicht entscheiden. Wichtig findet er, Kinder nicht lediglich durch ein womöglich zu schnell verordnetes Medikament für die Gesellschaft "kompatibel" zu machen. "Eltern müssen ihr Kind vorbehaltlos lieben, und verlässliche Strukturen und Rituale einüben", betont er.
"In meinem Kopf war immer Chaos"
Für den Programmierer und IT-Spezialisten Oskar Groh (44) dagegen war die Wirkung des Medikamentes Methylphenidat "eine überwältigende Erfahrung". Er erinnert sich: "Ich konnte zum ersten Mal einen Film zu Ende sehen, ohne zwischendurch aufzuspringen oder emotional überzukochen." Sogar den Titel des Films weiß er noch. Bei "Slumdog millionaire" erlebte er vor gut zwei Jahren zum ersten Mal, wie es sich anfühlt, entspannt bei der Sache bleiben zu können.
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Als Kind war Oskar – wie viele ADSler – unauffällig, denn der introvertierte Junge beschäftige sich stundenlang still allein. Die Aussage von Fachleuten, die ADS den "kleinen Bruder des Autismus" nennen, kann er aus eigener Erfahrung nachvollziehen. In seiner Schulzeit vermied er als verpeilter Träumer alles, was ihm nicht von Anfang an lag, und schaffte zuerst nur einen Hauptschulabschluss. "Dabei wusste ich: Ich bin doch nicht blöd". Was Außenstehende nicht ahnten: "In meinem Kopf war immer Chaos. Ich kann mich nur motivieren für etwas, was mich auch begeistert. Ich muss kreativ sein dürfen."
Oskar Groh entdeckte im IT-Bereich die Möglichkeit zur kreativen Arbeit, die ihn fesselt. Als er allerdings Aufgaben übernehmen musste, die ihn eben nicht faszinierten, versank er in einer langen Depression, deren ursächlichen Zusammenhang mit ADS aber jahrelang kein Arzt erkannte. Im Internet stieß er schließlich auf ein ADS-Forum. "Plötzlich verstand ich, was mit mir los war. Die Diagnose ADS war für mich eine Befreiung." Endlich gab es einen Namen für seine Zerstreutheit, seine emotionale Unausgeglichenheit, seine Unruhe, für das stets präsente Chaos im Kopf, bei dem unterschiedliche Impulse, Reize und Eindrücke ungefiltert nebeneinander stehen und dafür sorgen, dass es schwer ist, "bei der Sache" zu bleiben.
Regulation und Rituale
Das Medikament und ein Verhaltenstraining haben bei Oskar Groh dazu beigetragen, dass seine durch die Depression belastete Ehe sich jetzt wieder harmonischer gestaltet. Heute ist er überzeugt, dass auch seine Eltern ADS hatten. "Hätte ich das doch bloß als Kind schon gewusst", sagt er mit Blick auf seine schwierige Jugend.
Oskar Groh hat gelernt, Rituale und Strukturen zu entwickeln und zu sagen, was er braucht. Autoschlüssel und Brieftasche legt er stets in den roten Blumenkübel an der Haustür. Das Glas Honig muss immer im Hochschrank stehen und wehe, er findet es dort nicht. "Sag mir, wenn du etwas änderst, sonst bin ich verloren", hat er seine Frau gebeten. Und wenn sie sicher sein will, dass er wirklich hört, was sie ihm sagen will, legt sie ihm die Hand auf die Schulter und sieht ihm in die Augen.
Das Medikament hat Oskar Groh eine neue Welt eröffnet. Im Beruf kann er bei der Sache bleiben, auch wenn eine Aufgabe gerade mal keinen Spaß macht. "Ich habe zwei Normalzustände – einen mit und eine ohne Tablette. Aber eigentlich bin ich der ohne Tabletten. Ich lebe sozusagen mit Geh-Hilfe, damit ich in der Welt der anderen zurechtkomme", erklärt er.